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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schätzte. Seine säuerliche, intolerante Miene drückte unmißverständlich [811]  tiefe Verachtung für den Silvesterabend aus; er fand die Party im Duckworth Club
überflüssig. Pateti, das Neujahr der Parsen, fällt in den Spätsommer oder den frühen
Herbst; ihm folgt vierzehn Tage später der Jahrestag der Geburt des Propheten Zarathustra.
Mr. Sethna hatte sein Neues Jahr schon lange vor der Neujahrsparty im Duckworth
Club eingeläutet. So wie der Silvesterabend hier im Club begangen wurde, spiegelte
er in Mr. Sethnas Augen eine anglophile Tradition wider. Zudem fand er es morbid,
daß just dieser Abend für viele Duckworthianer eine doppelte Bedeutung hatte: Für
sie war er zugleich der Jahrestag – diesmal der neunzigste – von Lord Duckworths
Selbstmord.
    Außerdem
lief das Programm dieses Abends nach Ansicht des Butlers in einer blödsinnigen Reihenfolge
ab. Die Duckworthianer waren im Durchschnitt ältere Herrschaften, zumal um diese
Jahreszeit. Freilich mußte man bei einer zweiundzwanzigjährigen Wartefrist damit
rechnen, daß die Clubmitglieder »älter« waren, aber es hing auch damit zusammen,
daß sich die jüngeren Duckworthianer zum Studium im Ausland aufhielten – zumeist
in England. In den Sommermonaten, wenn die Studentengeneration zu Hause in Indien
war, wirkten die Duckworthianer insgesamt verjüngt. Aber jetzt waren hier lauter
ältere Herrschaften versammelt, die zu einer vernünftigen Zeit zu Abend essen sollten;
und von denen erwartete man nun, daß sie tranken und tanzten, bis das Mitternachtsdinner
serviert wurde – eine völlig verquere Reihenfolge, wie Mr. Sethna fand. Man hätte
ihnen das Essen früh vorsetzen und sie danach tanzen lassen sollen – sofern sie
dazu in der Lage waren. Zuviel Champagner auf leeren Magen hatte bei älteren Leuten
besonders schädliche Auswirkungen. Einigen Paaren fehlte das nötige Standvermögen,
um bis zum Mitternachtsdinner durchzuhalten. Dabei ging es an diesem albernen Abend
doch einzig und allein darum, bis Mitternacht durchzuhalten.
    So wie
Dhar tanzte, würde er auf keinen Fall bis Mitternacht [812]  durchhalten. Trotzdem war
Mr. Sethna beeindruckt, wie gut sich der Schauspieler von seinem miserablen Aussehen
am Tag zuvor erholt hatte. Am Samstag war er noch bleich wie ein Gespenst gewesen
und hatte seinen Penis über dem Pinkelbecken abgetupft – ein gräßlicher Anblick.
Und jetzt, am Sonntagabend, tanzte er, braungebrannt und kraftstrotzend, wie ein
Verrückter. Vielleicht war die Geschlechtskrankheit des Schauspielers ja vorübergehend
abgeklungen, überlegte Mr. Sethna, während Dhar Muriel weiterhin über das Parkett
wirbelte. Wo hatte der widerliche Filmstar bloß eine solche Frau aufgegabelt?
    Mr. Sethna
fiel ein, daß an der Markise des Bombay Eros Palace früher einmal ein Transparent
angebracht gewesen war: Die Frau darauf hatte genau wie Muriel ausgesehen. (Es war
natürlich Muriel gewesen, für die das Wetness Cabaret im Vergleich zum Bombay Eros
Palace einen Abstieg bedeutete.) Mr. Sethna hatte niemals ein Clubmitglied in einer
solchen Aufmachung gesehen. Das Geglitzer der türkisfarbenen Pailletten auf Muriels
Kleid, der tiefe Ausschnitt, der knappe Minirock… Er umspannte ihr Hinterteil so
eng, daß Mr. Sethna damit rechnete, daß einige Pailletten abplatzen und sich über
die Tanzfläche verstreuen würden. Muriel hatte sich den festen, muskulösen Po einer
Tänzerin erhalten. Obwohl sie bestimmt ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hatte
als Inspector Dhar, konnte sie es in puncto Tanzen und Schwitzen durchaus mit ihm
aufnehmen. Doch dem Tanz der beiden fehlte jedes werbende Element; sie wirkten roh
und aggressiv und gingen erstaunlich grob miteinander um, woraus der mißbilligende
Butler schloß, daß die öffentliche Darbietung nur ein lüstern-obszönes Vorgeplänkel
für ihre rüderen intimen Liebesspiele war.
    Mr. Sethna
bemerkte auch, daß aller Augen auf die beiden gerichtet waren. Er wußte, daß sie
sich mit Absicht in dem Teil des Tanzsaals aufhielten, der vom Speisesaal aus einsehbar
war, so daß zahlreiche Paare notgedrungen mit ansehen mußten, wie [813]  sie ihre Drehungen
vollführten. Den besten Blick auf den Ballsaal hatte man von dem Tisch aus, den
Mr. Sethna für Mr. und Mrs. Dogar reserviert hatte; dabei hatte der Butler Detective
Patels Anweisungen haarklein befolgt und dafür gesorgt, daß für die zweite Mrs.
Dogar der Stuhl zurechtgerückt wurde, von dem aus sie den tanzenden Dhar am

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