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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sehen konnte.
    Vom Tisch
der Daruwallas im Ladies’ Garden aus sah man in den Speisesaal. Der Doktor und der
Detective konnten von ihren Plätzen aus Mrs. Dogar im Auge behalten, nicht aber
den Ballsaal. Ihnen ging es ja auch nicht darum, Dhar zu beobachten. Erleichtert
stellte Mr. Sethna fest, daß die dicke Blondine ihren ungewöhnlichen Nabel zum Glück
verhüllt hatte. Nancy mochte angezogen sein wie eine Schuldirektorin – oder eine
Gouvernante oder Pastorengattin –, für Mr. Sethna blieb sie ein launisches, rebellisches
Wesen, dem alles zuzutrauen war. Sie saß mit dem Rücken zu Mrs. Dogar und starrte
in die sich zusammenbrauende Dunkelheit hinter dem Spalier; um diese Tageszeit glänzten
die Bougainvilleen wie Samt. Nancys freier Nacken – das flaumige, blonde Haar, das
an dieser Stelle so weich aussah – erinnerte Mr. Sethna an ihren pelzigen Nabel.
    Der elegante
Smoking des Doktors und seine schwarze Seidenfliege bildeten einen scharfen Kontrast
zu dem arg zerknitterten Nehru-Anzug des Kommissars. Doch Mr. Sethna war überzeugt,
daß die meisten Duckworthianer nie mit jenen Kreisen der Bevölkerung in Berührung
kamen, die einen Polizisten an seiner Kleidung zu erkennen vermochten. Julias Kleid
fand die Zustimmung des Butlers; es war ein anständiges Kleid – der lange Rock streifte
fast den Boden, die langen Ärmel endeten in gerüschten Manschetten, und es hatte
zwar keinen beengenden Stehkragen, aber der Ausschnitt verlief sittsam oberhalb
jedes wahrnehmbaren Brustansatzes. Ach ja, die gute alte Zeit, dachte Mr. Sethna
wehmütig. Als hätte die Kapelle seine Gedanken erraten, wechselte sie zu einem Slowfox.
    [814]  Dhar
und Muriel, beide keuchend, sanken einander etwas zu lustlos in die Arme; sie hing
an seinem Hals, seine Hand lag besitzergreifend auf den harten, perlenartigen Pailletten
auf ihrer Hüfte. Sie schien ihm etwas zuzuflüstern – dabei sang sie nur den Text
mit, denn Muriel kannte jeden Song, den diese Band spielte, und noch viele mehr –, während Inspector Dhar wissend über ihre Worte lächelte. Er setzte sein höhnisches
Lächeln auf, fast schon ein Grinsen; diesen verächtlichen Blick, der dekadent und
zugleich gelangweilt wirkte. In Wirklichkeit amüsierte sich Dhar über Muriels Akzent;
er fand die Stripperin ausgesprochen komisch. Die zweite Mrs. Dogar hingegen fand
das, was sie sah, keineswegs amüsant. Sie sah John D. mit einem losen Frauenzimmer
tanzen, vermutlich einem Flittchen – noch dazu fast so alt wie Mrs. Dogar. Diese
Sorte Frauen war leicht zu haben. Dhar hätte bestimmt etwas Besseres an Land ziehen
können, dachte Rahul.
    Die gesetzten
Duckworthianer, die auf eine langsame Nummer gewartet hatten und sich jetzt zum
Tanzen aufs Parkett wagten, hielten deutlich Abstand von Dhar und Muriel, die eindeutig
keine Dame war. Mr. Sethna, der alte Lauscher und exzellente Lippenleser, bekam
problemlos mit, was Mr. Dogar zu seiner Frau sagte. »Kann es sein, daß der Schauspieler
eine richtige Prostituierte mitgebracht hat? Ich muß schon sagen, sie sieht aus
wie eine Hure.«
    »Ich halte
sie für eine Stripperin«, meinte Mrs. Dogar. Rahul hatte einen scharfen Blick für
derartige Feinheiten entwickelt.
    »Vielleicht
ist sie Schauspielerin«, sagte Mr. Dogar.
    »Sie spielt
Theater, aber Schauspielerin ist sie nicht«, entgegnete Mrs. Dogar.
    Nach dem
wenigen zu urteilen, was Farrokh von Rahul sehen konnte, hatte die Transsexuelle
den reptilhaften, musternden Blick ihrer Tante Promila geerbt. Wenn sie einen ansah,
war es, als betrachte sie eine andere Form von Leben – bestimmt kein menschliches
Wesen.
    [815]  »Von
hier aus läßt sich das schwer feststellen«, meinte Dr. Daruwalla. »Ich weiß nicht,
ob sie ihn attraktiv findet oder ob sie ihn umbringen möchte.«
    »Vielleicht
ist das bei ihr ein und dasselbe«, meinte der Kommissar.
    »Egal
was sie sonst empfindet, sie findet ihn attraktiv«, sagte Nancy. Das einzige, was
Rahul von ihr hätte sehen können, wenn er hergeschaut hätte, war ihr Rücken. Aber
Rahul hatte nur Augen für John D.
    Als die
Band ein schnelleres Stück spielte, gingen Dhar und Muriel noch grober miteinander
um, als hätten das langsame Intermezzo und der engere Körperkontakt sie dazu angeregt.
Dabei rissen ein paar Pailletten von Muriels billigem Kleid ab; sie glitzerten auf
dem Tanzparkett, reflektierten das Licht des Lüsters im Ballsaal – und wenn Dhar
oder Muriel darauf traten, knirschten sie. Muriel rann der Schweiß

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