Zirkuskind
Die Warteschlange war ihr zu lang; Rahul schlüpfte durch die Eingangshalle
in die geschlossenen, unbeleuchteten Büroräume des altehrwürdigen Clubs. Da das
Mondlicht zum Tippen ausreichte, spannte sie einen Zwei-Rupien-Schein in eine [818] dicht
am Fenster stehende Schreibmaschine. Die Botschaft, die sie auf den Geldschein tippte,
war so spontan wie ihre augenblicklichen Gefühle.
KEIN MITGLIED MEHR
Diese
Botschaft war für Dhars Mund gedacht. Mrs. Dogar steckte sie in ihre Handtasche,
wo sie der anderen Botschaft, die sie bereits für ihren Mann getippt hatte, Gesellschaft
leisten konnte.
… WEIL DHAR NOCH
MITGLIED IST
Es beruhigte
Mrs. Dogar, diese beiden Zwei-Rupien-Scheine griffbereit zu haben; sie fühlte sich
stets besser, wenn sie auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Durch die Eingangshalle
schlich sie zurück zur Damentoilette, wo die Warteschlange inzwischen nicht mehr
so lang war. Als Rahul an ihren Tisch im Speisesaal zurückkehrte, tanzte Dhar mit
einer neuen Partnerin.
Mr. Sethna,
der die Unterhaltung zwischen dem Ehepaar Dogar frohgemut überwachte, nahm Mr. Dogars
Bemerkung gegenüber seiner ungehobelten Frau mit Begeisterung auf: »Jetzt tanzt
Dhar mit dieser stattlichen Amerikanerin, die mit den Daruwallas gekommen ist. Ich
glaube, sie ist die weiße Hälfte einer Mischehe. Ihr Mann sieht aus wie irgend so
ein armseliger Staatsbeamter.«
Doch Mrs.
Dogar bekam das tanzende Paar kaum zu sehen. Dhar hatte Nancy in den Teil des Ballsaals
dirigiert, der vom Speisesaal aus nicht zu sehen war. Nur in unregelmäßigen Abständen
ließen sich die beiden kurz blicken. Zuvor hatte Rahul der kräftigen Blonden wenig
Beachtung geschenkt. Als Mrs. Dogar zum Tisch der Daruwallas hinübersah, waren diese
ins Gespräch mit dem deplazierten »armseligen Staatsbeamten« [819] vertieft. Rahul
konnte ihn sich als bescheidenen Verwaltungsbeamten vorstellen – oder als kleinen
Guru bei einer Aufsichtsbehörde, der seine amerikanische Frau in einem Ashram kennengelernt
hatte.
Dann tanzten
Dhar und die kräftige Frau ins Blickfeld. Mrs. Dogar spürte die Kraft, mit der sie
einander festhielten. Die breite Hand der Frau lag schwer auf Dhars Nacken, und
sein rechter Bizeps drückte sich in ihre Achselhöhle (als wollte er sie hochheben).
Sie war größer als er; aus der Art, wie sie seinen Nacken umklammerte, konnte Rahul
unmöglich schließen, ob sie Dhars Gesicht an ihren Hals zog oder mit Gewalt zu verhindern
versuchte, daß er sie liebkoste. Bemerkenswert dabei war, daß sie heftig aufeinander
einflüsterten. Keiner von beiden hörte zu, sondern alle zwei redeten eindringlich
und gleichzeitig. Als sie wieder aus dem Blickfeld tanzten, hielt Mrs. Dogar es
nicht länger aus und forderte ihren Mann zum Tanzen auf.
»Er hat
sie soweit! Ich habe Ihnen ja gesagt, daß er es schafft«, sagte Dr. Daruwalla.
»Das ist
erst der Anfang«, entgegnete der Kommissar. »Vorerst tanzen sie nur.«
Gutes neues Jahr
Mr. Dogar
hatte Glück; es war ein langsamer Tanz. Seine Frau bugsierte ihn an mehreren zaudernden
Paaren vorbei, die es irritierte, daß die von Muriels Kleid abgefallenen Pailletten
noch immer unter ihren Füßen knirschten. Mrs. Dogar hatte Dhar und die kräftige
Blondine im Blickfeld.
»Steht
das im Drehbuch?« flüsterte Nancy dem Schauspieler zu. »Das steht nicht im Drehbuch,
Sie Mistkerl!«
»Wir sollen
doch eine Szene machen, eine Art Streit zwischen einem alten Liebespaar«, flüsterte
Dhar.
»Aber
Sie umarmen mich!« warf Nancy ihm vor.
[820] »Und
Sie drücken mich an sich«, flüsterte er.
»Am liebsten
würde ich Sie umbringen!« flüsterte Nancy.
»Sie ist da«, sagte Dhar leise. »Sie folgt uns.«
Rahul
bemerkte, daß die blonde Frau in Dhars Armen schlagartig erschlaffte – nachdem sie
sich eben noch deutlich gewehrt hatte. Jetzt hatte Mrs. Dogar den Eindruck, als
würde Dhar die kräftige Blondine stützen; sonst wäre sie womöglich aufs Parkett
gefallen, so leblos hing sie an dem Schauspieler. Sie hatte ihm beide Arme um den
Hals geschlungen und die Hände in seinem Nacken verschränkt; das Gesicht vergrub
sie an seinem Hals – ziemlich unbeholfen, weil sie größer war als er. Rahul konnte
beobachten, daß Nancy den Kopf schüttelte, während Dhar auf sie einflüsterte. Die
blonde Frau strahlte etwas angenehm Unterwürfiges aus, so als hätte sie bereits
aufgegeben. Rahul fühlte sich an jene Sorte Frauen erinnert, die zuließen, daß man
sie beschlief oder daß man sie
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