Zirkuskind
Dingen, die den Doktor im Zirkus jedesmal wieder unruhig werden ließ.
Am selben
Montag machte jemand Madhu einen Heiratsantrag. Der Antrag wurde, wie es sich gehörte,
zuerst Mr. und Mrs. Das unterbreitet; der Zirkusdirektor und seine Frau waren erstaunt.
Sie hatten mit der Ausbildung des Mädchens noch nicht einmal begonnen, so daß sie
bei den Vorstellungen auch nicht in Erscheinung trat. Trotzdem kam der Heiratsantrag
von einem Gentleman, der behauptete, bei der Nachtvorstellung am Sonntag unter den
Zuschauern gewesen zu sein. Und am nächsten Morgen stand er schon da und bekundete
seine tiefe Ergebenheit!
Der bengalische
Zirkusdirektor und seine Frau hatten selbst Kinder, die dem Zirkusleben jedoch den
Rücken gekehrt hatten. Aber die beiden bildeten seit Jahren zahlreiche andere Kinder
zu Zirkusartisten aus, waren freundlich zu diesen quasi adoptierten Kindern und
nahmen besonders die Mädchen unter ihre Fittiche. [851] Schließlich waren sie, wenn
sie eine ordentliche Ausbildung hatten, von einigem Wert – nicht nur für den Zirkus.
Sie hatten sich ein bißchen Glamour erworben und sogar etwas Geld verdient; da sich
keine Gelegenheit bot, es auszugeben, bewahrten der Zirkusdirektor und seine Frau
es normalerweise als Mitgift für die Mädchen auf.
Mr. und
Mrs. Das berieten ihre Schützlinge gewissenhaft, ob ein Heiratsantrag es wert war,
angenommen oder ausgehandelt zu werden, und für gewöhnlich gaben sie ihre Adoptivtöchter
dann aus der Hand – stets in anständige Ehen, wobei sie häufig noch einen eigenen
Beitrag zur Mitgift leisteten. In vielen Fällen hatten der Zirkusdirektor und seine
Frau diese Mädchen so liebgewonnen, daß es ihnen das Herz brach, sie weggehen zu
sehen. Fast alle Mädchen verließen früher oder später den Zirkus; die wenigen, die
dablieben, wurden selbst Ausbilder.
Madhu
war sehr jung, ein völlig unbeschriebenes Blatt, und sie hatte keine Mitgift. Und
doch stand hier ein wohlhabender Gentleman, gut gekleidet, eindeutig ein Stadtbewohner
– er war begütert und betrieb in Bombay ein Vergnügungsgeschäft –, und machte Madhu
einen Heiratsantrag, den Mr. und Mrs. Das als ausnehmend großzügig empfanden; er
war bereit, das arme Mädchen ohne jede Mitgift zu nehmen. Zweifellos würde man sich
beim Aushandeln der Bedingungen ausgiebig über eine angemessene Entschädigung für
den Zirkusdirektor und seine Frau unterhalten müssen, denn (wer weiß?) vielleicht
hätte Madhu im Great Blue Nile ja ein Star werden können. Aber im Grunde bekamen
Mr. und Mrs. Das aus ihrer Sicht eine beträchtliche Summe für ein mürrisches Mädchen,
bei dem sich womöglich herausstellen würde, daß es gar nicht zur Artistin taugte.
Schließlich mußten sie sich ja nicht von einer jungen Frau trennen, die ihnen ans
Herz gewachsen war; ehrlich gesagt, hatten sie kaum Zeit gehabt, mit Madhu zu reden.
Freilich
hätte das bengalische Ehepaar auf die Idee kommen [852] können, mit dem Doktor oder
dem Missionar Rücksprache zu halten. Zumindest hätten sie diesen Schritt mit Deepa
erörtern sollen, aber die Frau des Zwergs war nach wie vor krank. Daß sie diejenige
war, die Madhu ausfindig gemacht und in ihr ein zukünftiges Mädchen ohne Knochen
gesehen hatte, fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Denn zum einen konnte Deepa ihr
Zelt noch immer nicht verlassen, und zum anderen fühlte sich die Frau des Zirkusdirektors
der Frau des Zwergs haushoch überlegen; sich mit ihr zu beratschlagen wäre unter
ihrer Würde gewesen – selbst wenn Deepa gesund gewesen wäre. Dazu kam, daß der Zirkusdirektor
einen gewissen Groll gegen Vinod hegte, den er um sein Taxiunternehmen beneidete.
Vinod hatte seit seinem Weggang vom Great Blue Nile seinen Erfolg immer maßlos übertrieben.
Und so vermochte Mrs. Das ihren Mann im Handumdrehen davon zu überzeugen, daß der
Heiratsantrag zumindest für sie beide ein gutes Geschäft war.
Falls
Madhu kein Interesse haben sollte, würden sie das dumme Kind eben im Zirkus behalten;
doch wenn das unwürdige Mädchen so klug war, sein Glück zu erkennen, würden der
Zirkusdirektor und seine Frau sie mit ihrem Segen gehen lassen. Von dem verkrüppelten
Bruder wußte der Herr aus Bombay offenbar nichts. Mr. und Mrs. Das fühlten sich
gewissermaßen verantwortlich dafür, daß der elefantenfüßige Junge allein zurückbleiben
würde; sie hatten Dr. Daruwalla und Martin Mills versprochen, daß Ganesh jede Chance
erhalten sollte, um seinen Weg zu machen. Aber sie sahen keinen
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