Zirkuskind
Grund, mit Deepa
über Ganesh zu reden, denn der Krüppel war nicht ihre Entdeckung gewesen – sie hatte
nur das Mädchen ohne Knochen entdeckt. Ein weiterer Grund, nicht mit der Frau des
Zwergs zu reden, war der, daß sie womöglich eine ansteckende Krankheit hatte.
Ein Anruf
beim Doktor oder beim Missionar wäre eine Frage der Höflichkeit gewesen – mehr freilich
nicht. Aber im Zirkus gab es kein Telefon; jemand hätte zum Postamt oder zum [853] Telegrafenamt
fahren müssen, und Madhu überraschte den Zirkusdirektor und seine Frau damit, daß
sie den Heiratsantrag auf der Stelle und bedingungslos annahm. Sie hatte weder das
Gefühl, der Herr könnte zu alt für sie sein, wie Mr. Das befürchtet hatte, noch
ließ sie sich von seiner äußeren Erscheinung, der Mrs. Das’ erste Sorge gegolten
hatte, abstoßen. Die Frau des Zirkusdirektors war von der entstellenden Narbe des
Herrn – einer Art Verbrennung, wie sie vermutete – angewidert, aber Madhu fand sie
nicht der Erwähnung wert und schien auch sonst keinerlei Anstoß an diesem abscheulichen
Makel zu nehmen.
Der Zirkusdirektor,
der wahrscheinlich im voraus spürte, daß Dr. Daruwalla die Angelegenheit nicht billigen
würde, schickte klugerweise Martin Mills ein Telegramm; er und seine Frau hatten
den Missionar als lockerer empfunden – womit sie meinten, daß er toleranter war.
Außerdem hatte er sich etwas weniger besorgt um Madhus Zukunft gezeigt – oder der
Doktor hatte sich seine Sorge mehr anmerken lassen. Und da St. Ignatius sein Jubiläum
feierte, war die Schulverwaltung geschlossen; es würde Dienstag werden, bis man
Martin das Telegramm aushändigte. Und bis dahin hatte Mr. Garg seine junge Frau
längst ins Wetness Cabaret gebracht.
Natürlich
lag es in Mr. Das’ ureigenstem Interesse, daß sein Telegramm optimistisch klang.
DAS MÄDCHEN MADHU / HEUTE IST IHR GLÜCKSTAG / SEHR ANNEHMBARES HEIRATSANGEBOT
VON GESCHÄFTSMANN IN MITTLEREN JAHREN UND SEHR ERFOLGREICH / GENAU WAS SIE MÖCHTE,
AUCH WENN SIE IHN NICHT UNBEDINGT LIEBT UND TROTZ SEINER NARBE / DER KRÜPPEL BEKOMMT
JEDE MÖGLICHKEIT HIER HART ZU ARBEITEN / SEIEN SIE VERSICHERT / DAS.
Als die Nachricht
irgendwann bis zu Dr. Daruwalla vordrang, hätte er sich in den Hintern treten können;
dabei hätte er es die ganze Zeit wissen müssen – warum sonst hätte sich Mr. Garg [854] bei Ranjit nach der Adresse des Great Blue Nile erkundigen sollen? Sicher wußte
Mr. Garg ebensogut wie Dr. Daruwalla, daß Madhu nicht lesen konnte; der Säuremann
hatte nie die Absicht gehabt, dem Mädchen einen Brief zu schreiben. Und als Ranjit
Farrokh darüber informierte (daß Garg nach der Adresse des Zirkus gefragt hatte),
hatte der getreue Sekretär es versäumt, dem Doktor mitzuteilen, daß sich Garg außerdem
erkundigt hatte, wann der Doktor aus Junagadh zurückkehren würde. Am selben Sonntag,
an dem Dr. Daruwalla den Zirkus verließ, machte sich Mr. Garg auf den Weg dorthin.
Farrokh
wollte sich nicht von Vinods Ansicht überzeugen lassen – daß Garg so in Madhu verknallt
war, daß er sie nicht fortgehen lassen konnte. Vielleicht hatte Mr. Garg nicht damit
gerechnet, daß ihm Madhu so sehr fehlen würde, meinte der Zwerg. Deepa unterstrich
die Bedeutung der Tatsache, daß der Säuremann Madhu tatsächlich geheiratet hatte.
Ganz bestimmt hatte er nicht die Absicht, das Mädchen wieder in ein Bordell zu schicken
– doch nicht, nachdem er sie geheiratet hatte. Vielleicht, fügte die Frau des Zwergs
hinzu, war es ja wirklich Madhus »Glückstag«.
Aber diese
Nachricht drang am Jubiläumstag nicht bis zu Dr. Daruwalla vor. Sie würde warten
müssen. Und eine noch schlimmere Nachricht ebenfalls. Ranjit sollte sie als erster
erfahren und beschließen, sie dem Doktor zunächst vorzuenthalten, da sie einfach
nicht zum Neujahrstag paßte. Aber in der geschäftigen Praxis von Tata Zwo herrschte
an diesem Montagsfeiertag reger Betrieb; für Tata Zwo gab es keine Feiertage. Dr.
Tatas uralter Sekretär, Mr. Subash, informierte Ranjit über das Problem. Die beiden
alten Arzthelfer unterhielten sich wie zwei verfeindete, zahnlose Rüden.
»Ich habe
eine Information, die ausschließlich für den Doktor bestimmt ist«, begann Mr. Subash,
ohne erst seinen Namen zu nennen.
[855] »Dann
werden Sie bis morgen warten müssen«, ließ Ranjit den dummen Kerl wissen.
»Hier
spricht Mr. Subash, aus der Praxis von Dr. Tata«, sagte der herrische Sekretär.
»Sie werden
trotzdem bis morgen warten müssen«,
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