Zirkuskind
die sich
Detective Patel nach Ansicht des Anrufers sicher selbst ansehen wollte.
Der Überwachungsbeamte,
ein Unterinspektor, der das Haus der Dogars beobachten sollte, hätte in dieser Nacht
ebensogut auch schlafen können. Er schwor, daß Mrs. Dogar das Haus nicht verlassen
habe; nur Mr. Dogar sei weggegangen. Der Unterinspektor, dem der Kommissar später
weniger anspruchsvolle Aufgaben wie etwa die Beantwortung von Beschwerdebriefen
übertrug, erklärte, er sei aufgrund des für den alten Mann typischen schlurfenden
Gangs sicher gewesen, daß es sich um Mr. Dogar gehandelt habe; außerdem sei die
Gestalt gebückt gegangen. Auffallend war der ausgebeulte Anzug, ein extrem lose
sitzender grauer Herrenanzug – nicht der, den Mr. Dogar am Silvesterabend bei der
Party im Duckworth Club getragen hatte –, unter dem Mr. Dogar ein weißes, am Hals
offenes Hemd trug. Der alte Mann bestieg um etwa zwei Uhr morgens ein Taxi; mit
einem andern Taxi kehrte er um 3 Uhr 45 zurück. Der Überwachungsbeamte (den der
Kommissar später auch noch vom [844] Unterinspektor zum Wachtmeister degradieren sollte)
hatte selbstgefällig angenommen, daß Mr. Dogar entweder eine Mätresse oder eine
Prostituierte aufsuchen wollte.
Eindeutig
eine Prostituierte, dachte Detective Patel. Nur daß es leider nicht Mr. Dogar gewesen
war.
Die Wirtin
des fraglich besseren Bordells in Kamathipura erklärte dem Kommissar, in ihrem Etablissement
sei es so üblich, daß, je nach Anzahl oder Ausbleiben der Kunden, um ein oder zwei
Uhr morgens die Lichter gelöscht wurden. Danach wurden nur noch Besucher eingelassen,
die die ganze Nacht blieben. Wollte jemand die Nacht mit einem ihrer Mädchen verbringen,
verlangte die Puffmutter von hundert Rupien an aufwärts. Der »alte Mann«, der nach
zwei Uhr kam, als es im Bordell bereits dunkel war, hatte dreihundert Rupien für
das kleinste Mädchen geboten. Zunächst dachte Detective Patel, die Bordellwirtin
habe sicher das jüngste Mädchen gemeint, aber sie sagte, sie sei ganz sicher, daß
der Gentleman das »kleinste Mädchen« verlangt habe. Wie dem auch sei, das hatte
er bekommen. Asha war sehr klein und zierlich – ungefähr fünfzehn Jahre alt, erklärte
die Wirtin, etwa dreizehn, schätzte der Kommissar.
Da keine
Lichter brannten und sich keine anderen Mädchen im Flur befanden, hatte niemand
außer der madam und Asha den vorgeblich alten Mann
gesehen – so alt war er nach Ansicht der Wirtin auch wieder nicht gewesen. Und sehr
gebeugt ging er auch nicht, soweit sie sich erinnerte; aber es war ihr (wie dem
seiner Degradierung entgegensehenden Überwachungsbeamten) aufgefallen, wie lose
der Anzug saß und daß er grau war. »Der Mann« war völlig glattrasiert bis auf einen
schmalen Schnurrbart – einen falschen, wie Detective Patel vermutete –, und hatte
eine ungewöhnliche Frisur. An dieser Stelle hob die madam beide Hände über die Stirn und sagte:
»Aber im Nacken und über den Ohren waren die Haare kurz geschnitten.«
»Ja, ich
weiß, eine Pompadourfrisur«, sagte Patel. Er wußte, [845] daß die Haare nicht silbergrau
mit weißen Strähnen gewesen waren, stellte die Frage aber trotzdem.
»Nein,
sie waren schwarz mit silbernen Strähnen«, bestätigte die Wirtin.
Niemand
hatte den »alten Mann« weggehen sehen. Irgendwann wurde die Bordellwirtin durch
das Auftauchen einer Nonne geweckt. Sie meinte gehört zu haben, daß jemand die Tür
von der Straße aus zu öffnen versuchte. Als sie nachschaute, stand eine Nonne vor
der Tür – das mußte etwa um drei Uhr morgens gewesen sein.
»Bekommen
Sie in dieser Gegend um diese Zeit viele Nonnen zu Gesicht?« fragte der Kommissar.
»Natürlich
nicht!« rief die madam .
Sie hatte die Nonne gefragt, was sie wolle, und diese hatte geantwortet, sie sei
auf der Suche nach einem christlichen Mädchen aus Kerala. Die madam hatte ihr geantwortet, daß es in
ihrem Haus keine Christinnen aus Kerala gebe.
»Und welche
Farbe hatte die Tracht der Nonne?« fragte Patel, obwohl er wußte, daß die Antwort
»grau« lauten würde, was auch stimmte. Das war keine ungewöhnliche Farbe für eine
leichte Tropentracht, aber es konnte sich ohne weiteres um den umgemodelten grauen
Anzug handeln, den Mrs. Dogar beim Betreten des Bordells getragen hatte. Wahrscheinlich
hatte die Tracht unter dem weiten Anzug Platz gehabt. Und später paßte umgekehrt
die Tracht über den Anzug, oder Teile der Tracht und des Anzugs waren ein und dasselbe
Stück – oder zumindest aus
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