Zirkuskind
Martin das Telefongespräch abbrechen mußte, um Unterricht zu halten. Farrokh
versprach dem Missionar, ihn über die weiteren Ereignisse des Tages auf dem laufenden
zu halten. Während die Knaben der Oberstufe der St. Ignatius-Schule eine katholische
Interpretation von Graham Greenes Das Herz aller Dinge erhielten, versuchte Dr. Daruwalla,
Madhu ausfindig zu machen. Doch wie sich herausstellte, hatte Garg sein Telefon
abgemeldet. Mr. Garg stellte sich tot. Vinod berichtete Dr. Daruwalla, daß Deepa
bereits mit Garg gesprochen hatte; angeblich hatte sich der Besitzer des Wetness
Cabaret bei ihr über den Doktor beschwert.
»Garg ist der Meinung,
daß Sie an ihn zu strenge moralische Maßstäbe anlegen«, erläuterte der Zwerg.
Doch was der Doktor
mit Madhu, oder auch mit Garg, besprechen wollte, hatte nichts mit Moral zu tun.
Obwohl er Gargs Verhalten mißbilligte, ging es ihm um die Möglichkeit, Madhu klarzumachen,
was es bedeutete, HIV -positiv
zu sein. Vinod ließ durchblicken, daß wenig Aussicht bestand, überhaupt direkt mit
Madhu zu sprechen.
»Es funktioniert
besser auf einem anderen Weg«, schlug der Zwerg vor. »Sie sagen es mir. Ich sage
es Deepa. Sie sagt es Garg. Und Garg sagt es dem Mädchen.«
Es fiel Dr. Daruwalla
schwer, dies als »besseren Weg« zu akzeptieren, aber allmählich begann er zu begreifen,
was es für den Zwerg bedeutete, als Barmherziger Samariter tätig zu sein. Kinder
aus den Bordellen zu retten war für Vinod und Deepa schlicht eine Freizeitbeschäftigung;
sie würden es auch weiterhin tun. Dabei unbedingt Erfolg haben zu müssen hätte ihre
Bemühungen womöglich verringert.
»Sag Garg, daß er
falsch informiert worden ist«, sagte Dr. Daruwalla zu Vinod. »Sag ihm, daß Madhu HIV -positiv ist.«
Interessanterweise
standen Gargs Chancen, sofern er nicht infiziert war, gut; wahrscheinlich würde
er sich bei Madhu nicht [884] mit dem HIV -Virus anstecken. (Mit der HIV -Übertragung ist es so, daß eine
Frau das Virus nicht so leicht an einen Mann weitergibt.) Falls Garg wirklich infiziert
war, bedeutete das tragischerweise, daß sich Madhu wahrscheinlich bei ihm angesteckt
hatte.
Der Zwerg mußte
die Niedergeschlagenheit des Doktors gespürt haben. Vinod wußte, daß sich ein erfolgreicher
Barmherziger Samariter nicht bei jedem kleinen Fehlschlag aufhalten konnte. »Wir
zeigen ihnen nur das Netz«, versuchte Vinod zu erläutern. »Wir sind nicht ihre Flügel.«
»Ihre Flügel? Welche
Flügel?« fragte Farrokh.
»Nicht jedes Mädchen
ist imstande zu fliegen«, sagte der Zwerg. »Und nicht alle fallen ins Netz.«
Dr. Daruwalla überlegte,
daß er diese Lebensweisheit an Martin Mills weitergeben sollte, aber der Scholastiker
war noch immer damit beschäftigt, den Knaben der Oberstufe Graham Greene in leicht
verdaulicher Form nahezubringen. Also rief der Doktor statt dessen den Kommissar
an.
»Patel hier«, sagte
die kalte Stimme. Im Hintergrund hallte das Geklapper der Schreibmaschinen; man
hörte das anschwellende und wieder verklingende Röhren eines Motorradmotors, der
gedankenlos auf Touren gebracht wurde. Wie eine Interpunktion ihres Telefongesprächs
ertönte zwischendurch das heftige Protestgebell der Dobermänner aus dem Zwinger
im Hof. Dr. Daruwalla stellte sich vor, daß unmittelbar außerhalb seiner Hörweite
ein Verhafteter seine Unschuld beteuerte und erklärte, er habe die Wahrheit gesagt.
Er hätte gern gewußt, ob Rahul anwesend war. Wie war sie wohl angezogen?
»Ich weiß, daß diese
Sache eigentlich nicht in den Bereich der Verbrechensbekämpfung gehört«, entschuldigte
sich Farrokh im voraus. Dann erzählte er dem Kommissar alles, was er über Madhu
und Mr. Garg wußte.
»Viele Zuhälter
heiraten ihre besten Mädchen«, informierte [885] Detective Patel den Doktor. »Garg
betreibt das Wetness Cabaret, aber nebenbei ist er Zuhälter.«
»Ich möchte nur
die Möglichkeit haben, ihr zu sagen, was ihr bevorsteht«, sagte Dr. Daruwalla.
»Sie ist die Frau
eines anderen Mannes«, entgegnete Patel. »Sie wollen also, daß ich der Frau eines
andern Mannes befehle, mit Ihnen zu reden?«
»Können Sie sie
nicht bitten?« fragte Farrokh.
»Ich kann es einfach
nicht glauben, daß ich mit dem Schöpfer von Inspector Dhar rede«, sagte der Kommissar.
»Wie war das gleich wieder? Es ist einer meiner absoluten Lieblingssprüche: ›Die
Polizei bittet nicht, die Polizei verhaftet oder schikaniert.‹ Ist das richtig?«
»Ja, das ist richtig«,
gab
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