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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eingestuft hätte,
spielte sie diese Rolle im Leben ihrer unwürdigen Neffen, der zwei niederträchtigen
Söhne ihres verarmten Bruders. Sie hatte das tragische Schicksal erlitten, vom selben
Mann zweimal am Tag der Hochzeit sitzengelassen worden zu sein, was Dr. Lowji Daruwalla
dazu veranlaßte, sie im Bekanntenkreis als »die Miss Havisham von Bombay – mal zwei«
zu bezeichnen.
    Sie hieß Promila
Rai, und bevor sie Lowji auf hinterlistige Weise mit dem Filmpack bekanntmachte,
hatte sie mit der Familie Daruwalla nur flüchtig zu tun gehabt. Sie hatte Dr. Daruwalla
senior einmal wegen der unerklärlichen Unbehaartheit des jüngeren ihrer zwei abscheulichen
Neffen konsultiert, eines eigenartigen Jungen namens Rahul Rai. Zur Zeit der Untersuchung,
die durchzuführen sich Lowji anfangs mit der Begründung geweigert hatte, daß er
nur Orthopäde sei, war Rahul erst acht oder zehn Jahre alt, so daß der Doktor nichts
»Unerklärliches« an seiner Unbehaartheit finden konnte. So [135]  ungewöhnlich war das
Fehlen von Körperbehaarung auch wieder nicht; immerhin hatte der Bursche buschige
Augenbrauen und einen dicken Haarschopf. Miss Promila Rai jedoch war mit dem Untersuchungsergebnis
des Doktors nicht zufrieden. »Na ja, schließlich sind Sie nur ein Knochendoktor«,
hatte sie abfällig gesagt – was den Orthopäden ziemlich ärgerte.
    Aber jetzt war Rahul
Rai zwölf oder dreizehn, und die Unbehaartheit seiner mahagonifarbenen Haut fiel
allmählich auf. Farrokh Daruwalla, der im Sommer 1949 neunzehn Jahre alt war, hatte
den Jungen nie gemocht; er war ein schmieriges Früchtchen, sexuell ambivalent –
und darin möglicherweise von seinem älteren Bruder Subodh beeinflußt, einem Tänzer
und Gelegenheitsschauspieler in der aufstrebenden Hindi-Filmszene. Subodh war eher
für seine grelle Homosexualität bekannt als für sein schauspielerisches Talent.
    Als Farrokh aus
Wien zurückkehrte und feststellte, daß sein Vater mit Promila Rai und ihren dubiosen
Neffen freundschaftlich verkehrte – na ja, man kann sich vorstellen, daß der junge
Farrokh, der während seines Studiums in intellektueller und literarischer Hinsicht
gewisse Ansprüche entwickelt hatte, den Abschaum von Hollywood, der sich bei seinem
zwar berühmten, aber leicht zu beeindruckenden Vater eingeschmeichelt hatte, als
Beleidigung empfand.
    Promila Rai hatte
schlicht und einfach gewollt, daß ihr schauspielernder Neffe Subodh eine Rolle in
dem Film bekam; und der präpubertäre Rahul sollte als Spielzeug für dieses kreative
Völkchen engagiert werden. Dank seiner unausgereiften Sexualität wurde der unbehaarte
Junge rasch zum kleinen Liebling der Kalifornier, zumal er sich auch noch als fähiger
Dolmetscher und eifriger Botenjunge entpuppte. Und was wollten diese Hollywood-Typen
von Promila Rai als Gegenleistung für die kreative Nutzung ihrer Neffen? Sie wollten
Zugang zu einem exklusiven Club – dem Duckworth Sports Club, der selbst in ihren [136]  zwielichtigen Kreisen hohes Ansehen genoß –, und sie wollten einen Arzt, der
sich um ihre Wehwehchen kümmerte. Genauer gesagt, um ihre panische Angst vor sämtlichen
Krankheiten, die sie in Indien möglicherweise auflesen konnten, denn anfangs fehlte
ihnen absolut nichts.
    Für den jungen Farrokh
war es ein Schock, nach Hause zu kommen und diese unglaubliche Entwürdigung seines
Vaters mitzuerleben. Seine Mutter war zutiefst verstört über die primitive Gesellschaft,
die sich ihr Mann ausgesucht hatte, und über die in ihren Augen schamlose Art und
Weise, in der Promila Rai ihn manipulierte. Indem der alte Lowji (er war der Vorsitzende
des Verfahrensausschusses) diesem amerikanischen Filmpöbel uneingeschränkten Zutritt
zum Club verschaffte, verstieß er gegen ein heiliges Gesetz der Duckworthianer.
Bislang wurden Gäste von Mitgliedern nur zugelassen, wenn sie in deren Begleitung
kamen und
blieben, aber
der alte Daruwalla war so vernarrt in seine neuen Freunde, daß er ihnen alle möglichen
Privilegien verschaffte. Dazu kam, daß der Drehbuchautor, von dem Lowji glaubte,
am meisten lernen zu können, am Drehort unerwünscht war, was dazu führte, daß dieser
empfindsame Künstler und Außenseiter inzwischen buchstäblich ein Dauergast im Duckworth
Club – und ein ständiger Zankapfel zwischen Farrokhs Eltern – war.
    Es ist oft peinlich,
mit ansehen zu müssen, wenn Ehepaare, die ein gewisses gesellschaftliches Ansehen
genießen, betont liebevoll miteinander umgehen. Farrokhs Mutter Meher war

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