Zirkuskind
bekannt
dafür, daß sie in der Öffentlichkeit mit ihrem Mann flirtete. Weil die Avancen,
die sie ihm machte, keineswegs unfein waren, galt Meher Daruwalla bei den Duckworthianern
als außerordentlich treu ergebene Ehefrau. Deshalb fiel es auch um so mehr auf,
als sie auf einmal nicht mehr mit Lowji flirtete. Für jedermann im Duckworth Club
war deutlich zu erkennen, daß Meher mit ihrem Mann in Fehde lag. Und der junge Farrokh [137] empfand es als beschämend, daß diese spürbare eheliche Spannung zwischen den
ehrbaren Daruwallas den ganzen Duckworth Club nervös machte.
Farrokh hatte sich
für diesen Sommer in erster Linie vorgenommen, seine Eltern auf die Liebschaften
vorzubereiten, die sich zwischen ihren beiden Söhnen und den fabelhaften Schwestern
Zilk anbahnten – »den Mädchen aus dem Wienerwald«, wie Jamshed sie nannte. Farrokh
hatte den Eindruck, daß die derzeitige Befindlichkeit der elterlichen Ehe möglicherweise
eine ungünstige Voraussetzung für die Erörterung jedweder Liebesangelegenheiten
war – ganz zu schweigen davon, daß seine Eltern die Vorstellung, beide Söhne könnten
katholische Wienerinnen heiraten, womöglich erschreckend fanden.
Es war typisch für
die Geschicklichkeit, mit der Jamshed seinen jüngeren Bruder manipulierte, daß er
Farrokh im Sommer mit dem Auftrag nach Hause schickte, dieses Thema anzuschneiden.
Farrokh stellte für Lowji eine geringere intellektuelle Herausforderung dar; außerdem
war er der Benjamin der Familie und wurde folglich nahezu vorbehaltlos geliebt.
Dazu kam, daß sich der alte Mann ohne Zweifel darüber freute, daß Farrokh in seine
orthopädischen Fußstapfen steigen wollte, und dieser deshalb als Überbringer unliebsamer
Nachrichten vielleicht eher willkommen war als Jamshed. Dessen Interesse an der
Psychiatrie, die nach Ansicht des alten Lowji »eine unpräzise Wissenschaft« war
– womit er meinte, im Vergleich zur orthopädischen Chirurgie –, hatte bereits einen
Keil zwischen Vater und Sohn getrieben.
Jedenfalls erkannte
Farrokh, daß der Augenblick ungünstig war, um auf die Fräulein Josefine und Julia
Zilk zu sprechen zu kommen; der Lobgesang auf ihren Liebreiz und ihre Tugenden würde
warten müssen. Die Geschichte von ihrer tapferen, verwitweten Mutter, die sich mit
der Erziehung ihrer Töchter große Mühe gegeben hatte, würde ebenfalls warten müssen. [138] Dieser gräßliche amerikanische Film nahm Farrokhs hilflose Eltern vollkommen
in Anspruch. Nicht einmal mit seinen intellektuellen Ambitionen konnte der junge
Mann die Aufmerksamkeit seines Vaters erringen.
Als Farrokh beispielsweise
zugab, daß er Jamsheds Begeisterung für Freud teilte, fürchtete sein Vater schon,
Farrokh könnte der exakteren Wissenschaft der orthopädischen Chirurgie untreu werden.
Lowji daraufhin mit einem ausführlichen Zitat aus Freuds Studie »Allgemeines über
den hysterischen Anfall« beruhigen zu wollen, war ebenfalls verfehlt; daß »der hysterische
Anfall… ein Koitusäquivalent« sein sollte, behagte dem alten Lowji gar nicht. Freuds
Auffassung, die hysterische Symptomatik entspreche einer Form von sexueller Befriedigung,
lehnte er rundweg ab. Über die sogenannte mehrfache Identifizierung – etwa in dem
Fall der Patientin, die mit einer Hand (angeblich ihrer Männer hand) versuchte, sich das Kleid vom
Leib zu reißen, während sie es gleichzeitig (mit ihrer Frauen hand) verzweifelt festzuhalten versuchte
– war Lowji Daruwalla schlichtweg empört.
»Ist das nun das
Ergebnis einer europäischen Ausbildung?« rief er. »Dem, was eine Frau denkt, wenn
sie sich auszieht, irgendeine Bedeutung beizumessen – das ist doch blanker Wahnsinn!«
Der alte Daruwalla
weigerte sich strikt, sich einen Satz, der den Namen Freud enthielt, überhaupt anzuhören.
Daß sein Vater Freud ablehnte, war für Farrokh ein weiterer Beweis für die intellektuelle
Sturheit und die altmodischen Überzeugungen dieses Tyrannen. In der Absicht, Freud
schlechtzumachen, paraphrasierte Lowji einen Aphorismus des berühmten kanadischen
Arztes Sir William Osler. Farrokh schätzte Osler, einen im Umgang mit Patienten
außergewöhnlich geschickten Arzt und begabten Essayisten, ebenfalls sehr. Es empörte
ihn, daß Lowji Sir William Osler dazu benutzen wollte, Freud zu [139] widerlegen. Der
alte Knallkopf bezog sich auf die bekannte Ermahnung Oslers, man dürfe Medizin keinesfalls
ohne Lehrbücher studieren, denn das sei so ähnlich, als würde man ohne Karte zur
See
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