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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatte. »Ihnen ist
da ein kleiner Fehler unterlaufen. Fräulein Hellein wurde nicht irrtümlich für eine giraffe gehalten.«
    »Das hat die Zeugin
aber gesagt, Freundchen«, entgegnete [130]  der Dolmetscher. Und er fügte hinzu: »Ich
habe keine Lust, mich von einem verdammten Orientalen über mein Englisch belehren
zu lassen.«
    »Ich belehrte Sie
nicht über Ihr Englisch, Sir«, sagte Farrokh. »Es geht um Ihr Deutsch.«
    »Es ist dasselbe
Wort auf deutsch, Freundchen«, sagte der englische Dolmetscher. »Die Hausfrau hat
sie als verdammte Giraffe bezeichnet!«
    »Das ist Umgangssprache«,
sagte Farrokh Daruwalla. »›Giraffe‹ ist Slang – gemeint ist eine Prostituierte.
Die Zeugin hat Fräulein Hellein irrtümlich für eine Hure gehalten.«
    Farrokh war fast
erleichtert, daß sein Gegenüber Brite war und ihn wenigstens – ethnisch korrekt
– als Orientalen bezeichnet hatte. Zweifellos hätte er die Nerven verloren, wenn
er ein zweites Mal für einen ungarischen Zigeuner gehalten worden wäre. Durch diese
beherzte Einmischung hatte der junge Daruwalla dem Kontrollrat der Alliierten einen
peinlichen Schnitzer erspart. Im offiziellen Sitzungsprotokoll stand denn auch nicht,
daß besagte Zeugin der Vergewaltigung, Ermordung und Enthauptung von Fräulein Hellein
diese irrtümlich für eine Giraffe gehalten hatte. Das zumindest war dem Opfer erspart
geblieben.
    Doch als
der junge Farrokh Daruwalla im Herbst 1955 nach Indien zurückkehrte, gehörte diese
Episode so sehr der Vergangenheit an wie seine frühere Beziehung zu diesem Land.
Er kehrte keineswegs als selbstsicherer junger Mann in seine Heimat zurück. Freilich
hatte er nicht die ganzen acht Jahre fern von Indien verbracht, aber ein kurzer
Besuch in den Semesterferien (im Sommer 1949) bereitete ihn im Grunde überhaupt
nicht auf die Verwirrung vor, die er sechs Jahre später erleben sollte – als er
in ein Indien »heimkehrte«, in dem er sich für alle Zeiten wie ein Fremder vorkommen
sollte.
    Er war daran gewöhnt,
sich als Ausländer zu fühlen; darauf hatte ihn sein Aufenthalt in Wien vorbereitet.
Die wiederholten [131]  angenehmen Besuche bei seiner Schwester in London wurden durch
jene eine Reise überschattet, die zeitlich mit einem Vortrag zusammenfiel, den sein
Vater auf Einladung des Royal College of Surgeons in London halten sollte – eine
große Ehre. Inder und Bewohner der ehemaligen britischen Kolonien ganz allgemein
waren ganz versessen darauf, Fellows des Royal College of Surgeons zu werden – auch
der alte Lowji war ungeheuer stolz auf sein Fellowship, sein »F«, wie man es nannte.
Dr. Daruwalla junior, der ebenfalls F. R. C. S. – von Kanada – werden sollte, maß
diesem »F« ungleich weniger Bedeutung bei. Als sich Farrokh damals den Vortrag seines
Vaters in London anhörte, sprach dieser dem amerikanischen Gründer der Britischen
Orthopädischen Gesellschaft – dem berühmten Dr. Robert Bayley Osgood, einem der
wenigen Amerikaner, der diese britische Institution für sich einzunehmen vermochte
– seine Anerkennung aus. Während Lowjis Vortrag (der sich anschließend den Problemen
der Behandlung von Kinderlähmung in Indien zuwandte) schnappte Farrokh eine höchst
verächtliche Bemerkung auf, die ihn davon abhalten sollte, jemals in London leben
zu wollen.
    »Was für Affen das
doch sind«, sagte ein blühend aussehender Orthopäde zu einem britischen Landsmann.
»Unglaublich dreist im Nachahmen. Sie beobachten uns ganze fünf Minuten lang, und
dann bilden sie sich ein, sie könnten es ebenso gut.«
    Der junge Farrokh
saß wie gelähmt in einem Auditorium voller Männer, die von Knochen- und Gelenkerkrankungen
fasziniert waren. Er konnte sich weder bewegen, noch hätte er ein Wort herausgebracht.
Hier ging es nicht einfach darum, daß jemand eine Prostituierte mit einer Giraffe
verwechselte. Da Farrokh erst am Anfang seines Medizinstudiums stand, war er nicht
einmal sicher, ob er begriff, was mit dem »es« gemeint war, von dem die beiden sprachen.
Er fühlte sich so verunsichert, daß er zunächst davon ausging, daß es sich um etwas
Medizinisches handelte – irgendein konkretes Fachwissen –, doch noch bevor [132]  Lowji
seinen Vortrag beendet hatte, begriff Farrokh, was sie meinten. »Es« war alles Englische,
»es« bedeutete, daß man so war wie sie. Selbst bei einer Versammlung von »Fachkollegen«,
wie sein Vater es prahlerisch nannte, war dieses »Es« alles, was sie registrierten
– schlicht das, was von

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