Zirkuskind
durch.
Für die Österreicher sahen sie wohl eher wie Iraner oder Türken aus. In den Augen
der meisten Europäer hatten die Brüder Daruwalla mehr Ähnlichkeit mit den Einwanderern
aus dem Nahen Osten als mit denen aus Indien. Farrokh und Jamshed waren zwar weniger
dunkelhäutig als viele Inder, aber doch dunkler als die meisten Leute aus dem Nahen
Osten – dunkler als Israelis und Ägypter, dunkler als Syrer, Libyer, Libanesen und
so weiter.
Die erste schlechte
Behandlung wegen seiner Hautfarbe erlebte der junge Farrokh in Wien von einem Metzger,
der ihn irrtümlich für einen ungarischen Zigeuner hielt. Mehr als einmal wurde er,
nachdem Österreich nun einmal ist, wie es ist, von Betrunkenen in einem Gasthof
angepöbelt und natürlich als Jude [128] bezeichnet. Bereits vor Farrokhs Eintreffen
hatte Jamshed festgestellt, daß es leichter war, im russischen Sektor eine Unterkunft
zu finden; da eigentlich kein Mensch dort wohnen wollte, nahmen einen die Pensionen
bereitwillig auf. Zuvor hatte Jamshed versucht, eine Wohnung in der Mariahilferstraße
zu mieten, aber die Hauswirtin hatte ihn mit dem Argument abgewiesen, er würde bestimmt
unangenehme Küchendüfte verbreiten.
Erst mit Mitte Fünfzig
ging Dr. Daruwalla die Ironie seiner damaligen Situation auf: Man hatte ihn genau
zu der Zeit von zu Hause weggeschickt, als Indien ein selbständiges Land wurde.
Die folgenden acht Jahre verbrachte er in einer vom Krieg zerstörten Stadt, die
von vier ausländischen Mächten besetzt war. Als er im September 1955 nach Indien
zurückkehrte, versäumte er in Wien knapp die Feierlichkeiten zum Tag der Unabhängigkeit.
Im Oktober feierte die Stadt das offizielle Ende der Besatzung – jetzt war auch
Österreich ein unabhängiges Land. Auch bei diesem historischen Ereignis war Dr.
Daruwalla nicht zugegen. Wieder einmal war er kurz zuvor abgereist.
Wenngleich die Brüder
Daruwalla eine völlig unwichtige Rolle spielten, gehörten sie doch zu den Protokollanten
der Geschichte Wiens. Dank ihrer jugendlichen Aufnahmefähigkeit für Fremdsprachen
konnte man sie zum Mitschreiben der Sitzungsprotokolle beim Kontrollrat der Alliierten
gut gebrauchen; sie kritzelten ausführlich alles mit, hatten aber so stumm zu sein
wie Pflastersteine. Als man ihnen die begehrten Dolmetscherjobs anvertrauen wollte,
erhob der Bevollmächtigte der Briten Einspruch gegen diese Beförderung, angeblich
weil die beiden noch Studenten waren. (Unter dem ethnischen Gesichtspunkt war es
beruhigend, daß wenigstens die Briten wußten, daß sie Inder waren.) Auf diese Weise
wurden die Brüder Daruwalla, wenn auch nur als Fliegen an der Wand, Zeugen der zahlreichen
Beschwerden gegen die Methoden, mit denen die Besatzer in der altehrwürdigen Stadt
vorgingen. So waren Farrokh und [129] Jamshed zum Beispiel bei den Ermittlungen gegen
die berüchtigte Benno-Blum-Bande dabei, einen Ring von Zigarettenschmugglern und
angeblichen Schwarzhändlern, die mit heißbegehrten Nylonstrümpfen handelten. Für
das Sonderrecht, sich ungehindert im sowjetischen Sektor betätigen zu dürfen, beseitigte
die Benno-Blum-Bande politisch unerwünschte Personen. Natürlich stritten die Russen
das ab. Farrokh und Jamshed wurden allerdings nicht von den angeblichen Kohorten
des Benno Blum belästigt, der nie gefaßt oder auch nur identifiziert wurde. Und
auch die Sowjets, in deren Sektor die beiden Brüder jahrelang wohnten, machten ihnen
kein einziges Mal Ärger.
Bei den Sitzungen
des Kontrollrates der Alliierten erlebte der junge Farrokh Daruwalla die gröbste
Behandlung von seiten eines britischen Dolmetschers. Farrokh schrieb bei einer Revisionsverhandlung
im Fall Anna Hellein, bei dem es um Mord und Vergewaltigung ging, das Sitzungsprotokoll,
als er einen Übersetzungsfehler entdeckte und den Dolmetscher umgehend darauf aufmerksam
machte.
Anna Hellein war
eine 29jährige Wiener Sozialarbeiterin gewesen, die am Kontrollpunkt Steyregg-Brücke
an der amerikanisch-sowjetischen Grenzlinie von einem russischen Wachposten aus
dem Zug gezerrt, vergewaltigt, ermordet und auf den Schienen liegengelassen worden
war. Später wurde sie von einem Zug enthauptet. Eine Zeugin, die alles mit angesehen
hatte, eine Wiener Hausfrau, hatte ausgesagt, sie habe den Zwischenfall nicht gemeldet,
weil sie überzeugt gewesen sei, daß Fräulein Hellein eine Giraffe war.
»Verzeihen Sie,
Sir«, sagte der junge Farrokh zu dem englischen Dolmetscher, der das mit dem englischen
Wort giraffe wiedergegeben
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