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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fahren. Farrokh hielt dagegen, Lowji habe Osler nur halb und Freud nicht einmal
zur Hälfte verstanden, denn schließlich habe Osler ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß Medizin zu studieren, ohne die Patienten zu studieren, dasselbe sei, wie überhaupt
nicht zur See zu fahren. Freud hatte immerhin seine Patienten studiert. Aber Lowji
war nicht von seiner Meinung abzubringen.
    Farrokh war empört
über seinen Vater. Er war bereits mit siebzehn von zu Hause fortgegangen, und jetzt
war er endlich ein weltgewandter und belesener Neunzehnjähriger. Und der alte Lowji,
weit davon entfernt, ein Paradebeispiel an scharfem Verstand und Vornehmheit zu
sein, kam ihm jetzt wie ein Hanswurst vor. In einem unbesonnenen Augenblick gab
Farrokh seinem Vater ein Buch zu lesen: Graham Greenes Die Kraft und
die Herrlichkeit, einen modernen Roman – »modern« zumindest für Lowji. Außerdem war es ein religiöser
Roman und damit (für Lowji) von vornherein ein rotes Tuch. Farrokh machte seinem
Vater den Roman damit schmackhaft, daß die katholische Kirche erheblichen Anstoß
daran genommen hatte – ein schlauer Köder. Noch mehr freute sich der alte Mann,
als er erfuhr, daß die französischen Bischöfe das Buch verurteilt hatten. Aus Gründen,
die darzulegen sich Lowji nie die Mühe machte, mochte er die Franzosen nicht. Aus
Gründen, die er entschieden zu oft darlegte, hielt Lowji sämtliche Religionen für
menschenverschlingende »Ungeheuer«.
    Gewiß war es idealistisch
von dem jungen Farrokh, sich einzubilden, er könnte seinen grimmigen, altmodischen
Vater für seine jüngst erworbene europäische Sensibilität gewinnen – zumal mit einem
derart schlichten Mittel wie seinem Lieblingsroman. In seiner Naivität hoffte Farrokh,
eine gemeinsame [140]  Wertschätzung für Graham Greene könnte möglicherweise zu einem
Gespräch über die aufgeklärten Schwestern Zilk führen, die, obwohl sie katholisch
waren, die Bestürzung der katholischen Kirche über Die Kraft und die Herrlichkeit nicht teilten. Und dieses Gespräch
könnte dann zu der Frage führen, wer diese liberal eingestellten Schwestern Zilk
denn waren, und so weiter und so weiter.
    Aber der alte Lowji
hatte für den Roman nur Verachtung übrig. Er verurteilte ihn wegen seiner moralischen
Widersprüchlichkeit – »ein heilloses Durcheinander von Gut und Böse«, wie er es
ausdrückte. Zunächst einmal, so argumentierte Lowji, wird der Polizeileutnant, der
den Priester hinrichtet, als integrer Mensch geschildert – und als ein Mann mit
hohen Idealen. Der Priester hingegen ist durch und durch verdorben – ein Wüstling,
ein Trinker und der Vater einer unehelichen Tochter.
    »Der Mann hat es
verdient, hingerichtet zu werden!« verkündete der alte Daruwalla. »Aber nicht unbedingt
deshalb, weil er Priester ist!«
    Farrokh war bitter
enttäuscht über diese bornierte Reaktion auf einen Roman, den er so gern mochte,
daß er ihn schon ein halbes dutzendmal gelesen hatte. Er provozierte seinen Vater
absichtlich, indem er ihm vorwarf, er verurteile das Buch aus bemerkenswert ähnlichen
Gründen wie die katholische Kirche.
    Und damit begannen
der Sommer und die Regenzeit desJahres 1949.
    In der Vergangenheit verhaftet
    Hier nun
kommen die Personen, aus denen sich das Filmpack, der Abschaum Hollywoods, der Morast
der Kinoszene zusammensetzt – die zuvor erwähnten »gewissenlosen Feiglinge, die
sich der Mittelmäßigkeit verschrieben haben«. Zum Glück sind [141]  es Nebenfiguren,
wenn auch so ekelhafte, daß ihre Einführung so lange wie möglich hinausgezögert
wurde. Außerdem hat sich die Vergangenheit bereits unliebsam in diese Erzählung
hineingedrängt. Dr. Daruwalla junior, dem solch unerwünschte und aufdringliche Einmischungen
der Vergangenheit nicht fremd sind, hat die ganze Zeit im Ladies’ Garden des Duckworth
Club gesessen. Und die Vergangenheit ist mit so betrüblicher Wucht über ihn hergefallen,
daß er sein Kingfisher Lager nicht angerührt hat; inzwischen ist es so warm, daß
man es nicht mehr trinken kann.
    Der Doktor weiß,
daß er sich wenigstens von seinem Stuhl erheben und seine Frau anrufen sollte. Julia
muß umgehend von dem Unglück des armen Mr. Lal und der Drohung an den geliebten
Dhar unterrichtet werden: MEHR MITGLIEDER STERBEN, WENN DHAR MITGLIED BLEIBT. Außerdem sollte Farrokh sie vorwarnen,
daß Dhar zum Supper zu ihnen kommen würde, und eine Erklärung für seine Feigheit
schuldete er ihr auch. Sicher wird Julia ihn für einen

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