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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dem närrischen Missionar nicht einfach seinen
Zwillingsbruder vor? fragte sich der Doktor. »Martin, das ist Ihr Bruder. Sie sollten
sich lieber an den Gedanken gewöhnen.« (Dr. Daruwalla ging davon aus, daß alle Missionare
in irgendeiner Beziehung Narren waren.) Es geschähe Vera recht, dachte Farrokh,
wenn jemand Dhars Zwillingsbruder die Wahrheit sagen würde. Vielleicht würde sie
Martin Mills sogar davon abhalten, einen Schritt zu tun, der ihm solche Beschränkungen
auferlegte, wie Priester zu werden. Es war eindeutig der Anglikaner in Dr. Daruwalla,
der vor dem bloßen Gedanken an Keuschheit zurückschreckte, die er als massive Einschränkung
empfand.
    Farrokh mußte daran
denken, was sein streitsüchtiger Vater zum Thema Keuschheit zu sagen gehabt hatte.
Als Beispiel hatte [251]  Lowji Gandhi herangezogen. Der Mahatma hatte mit dreizehn
geheiratet; mit siebenunddreißig gelobte er für den Rest seines Lebens sexuelle
Enthaltsamkeit. »Nach meiner Berechnung«, hatte Lowji gesagt, »läuft das auf vierundzwanzig
Jahre Sex hinaus. Viele Leute haben in ihrem ganzen Leben nicht so lange Sex. Der
Mahatma hat sich also nach vierundzwanzig Jahren sexueller Aktivität für sexuelle
Abstinenz entschieden. Er war ein verfluchter Casanova, umringt von einem Haufen
Maria Magdalenas!«
    Wie bei allen Äußerungen
seines Vaters klang Farrokh auch hier dessen unerschütterlich autoritäre Stimme
noch nach Jahren im Ohr; was immer der alte Lowji verkündete, er tat es stets in
demselben scharfen, aufrührerischen Ton. Ob er spottete oder verleumdete, provozierte
oder zuredete, ob er einen guten Rat erteilte (normalerweise medizinischer Art),
eine auf einem miesen Vorurteil fußende Behauptung aufstellte oder eine sehr verschrobene,
stark simplifizierte Ansicht kundtat – Lowji sprach stets im Tonfall des selbsternannten
Experten. Jedem gegenüber und bei jedem Thema schlug er denselben berühmten Ton
an, mit dem er sich in den Tagen der Unabhängigkeit und während der Teilung einen
Namen gemacht hatte, als er sich so kompetent und überzeugend zum Thema Katastrophenmedizin
geäußert hatte. (»In der Katastrophenmedizin gilt das Kriterium der Dringlichkeit:
Zuerst behandelt man große Amputationen und schwere Verletzungen an Extremitäten,
dann Brüche und Schnittwunden. Kopfverletzungen überläßt man am besten Fachleuten,
sofern welche greifbar sind.«) Es war ein Jammer, daß ein so vernünftiger Ratschlag
an eine Bewegung verschwendet wurde, die sich nicht durchsetzte, obwohl ihre jetzigen
freiwilligen Mitarbeiter sie nach wie vor für eine lohnende Sache hielten.
    Mit dieser Erinnerung
versuchte Dr. Farrokh Daruwalla, die Vergangenheit auszublenden. Er zwang sich,
das derzeit akute [252]  Problem, die melodramatische Sache mit Dhars Zwillingsbruder,
in Angriff zu nehmen. Mit ungewöhnlicher, erfrischender Klarheit beschloß der Doktor,
Dhar entscheiden zu lassen, ob der arme Martin Mills erfahren sollte, daß er einen
Zwillingsbruder hatte, oder nicht. Martin Mills war nicht der Zwilling, den der
Doktor kannte und gern hatte. Man sollte sich an das halten, was Farrokhs geliebter
John D. wollte: seinen Bruder kennenlernen oder nicht. Zum Teufel mit Danny und
Vera und dem ganzen Durcheinander, das sie aus ihrem Leben gemacht hatten – vor
allem zum Teufel mit Vera. Sie war inzwischen fünfundsechzig, und Danny war fast
zehn Jahre älter. Beide waren alt genug, um den Tatsachen wie Erwachsene ins Auge
zu sehen.
    Doch all diese vernünftigen
Überlegungen wurden mit einem Schlag beiseite gefegt, als Dr. Daruwalla die nächste
Nachricht hörte, neben der sich alles, was mit Dhar und seinem Zwillingsbruder zu
tun hatte, wie unbedeutendes Geplänkel ausnahm.
    »Patel hier«, sagte
die Stimme, für Farrokh ungewohnt nüchtern und distanziert. Anästhesie-Patel? Radiologie-Patel?
Es war ein Gujarati-Name – in Bombay gab es nicht allzu viele Patels. Und dann,
begleitet von einem plötzlichen Kälteschauder – fast so kühl wie die Stimme auf
dem Anrufbeantworter –, wußte Farrokh, wer es war. Es war Kommissar Patel, der echte
Polizeibeamte. Bestimmt war er der einzige Gujarati bei der Bombayer Polizei, dachte
Farrokh, denn die hiesigen Polizisten waren sicher zum größtenteils Teil Marathen.
    »Doktor«, sagte
der Detective, »wir müssen uns noch über ein ganz anderes Thema unterhalten, aber
bitte nicht in Dhars Gegenwart. Ich möchte mit Ihnen allein sprechen.« So kurz und
knapp die Nachricht war, so abrupt

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