Zirkusluft
Wut kaum unterdrücken.
»Vier Stunden ›Holland Ende‹, das ist knapp unter der Höchststrafe!«, zischte sie.
»Ach, komm«, erwiderte ihr Kollege Klaus Hartmann, der auf dem Beifahrersitz saß, »wir haben doch schon viel Schlimmeres über uns ergehen lassen. Wenn ich an die Nächte am Frankfurter Flughafen denke, dagegen ist ›Holland Ende‹ doch das reinste Paradies.«
Als ›Holland Ende‹ wurde in Kassel im Allgemeinen das nordwestliche Ende der Holländischen Straße bezeichnet, speziell der Bereich der Straßenbahnwendeschleife. Die Polizistin sah auf die Uhr am Armaturenbrett.
»22.15 Uhr. Wollen wir uns noch einen Kaffee beim Amerikaner holen?«
»Das sollten wir besser lassen, wenn wir unsere Streifen nicht riskieren wollen. Also, gib Gas und entspann dich, vielleicht erzähle ich dir noch einen Schwank aus meiner Jugend, während wir uns die Zeit mit Nichtstun vertreiben.«
»Bloß nicht«, bat sie, setzte den Blinker und bog auf die Holländische Straße ein.
Kurz danach stand der Polizeiwagen am hinteren Ende der Wendeschleife im diffusen Licht einer Bogenlampe. Die Polizistin hatte ihren Kollegen während der Fahrt doch noch davon überzeugt, an der nahe gelegenen Tankstelle für jeden einen Becher Kaffee zu besorgen. Sie hob den Deckel ab und führte das Gefäß vorsichtig zum Mund.
»Shit, ist das Zeug heiß. In Amerika würde ich nie mehr arbeiten müssen, wenn ich mir an dieser Lava die Lippen verbrannt hätte.«
»Kein Mensch kann so schön jammern wie du, Evelyn. Aber auch wenn du dich noch so anstellst, wir werden bis drei Uhr hier sitzen müssen.« Er schmunzelte. »Und bis dahin ist dein Kaffee bestimmt so weit abgekühlt, dass er unfallfrei zu genießen ist.«
Sie klappte einen Halter aus der Mittelkonsole, stellte den Becher hinein und lehnte sich zurück.
»Ich hätte mich krankmelden sollen. Den ganzen Tag hab ich im Bett gelegen und mich mit Schmerzen gequält, die ein Mann nie erleben muss. Nur meiner unglaublichen Disziplin hast du es zu verdanken, dass du nicht mit der Zicke von Sophie hier sitzen musst.«
»Die Kollegin Sophie von Wagner ist ein schwieriger Charakter, das muss ich zugeben. Also herzlichen Dank an dich«, spöttelte Hartmann. »Allerdings erträgt sie nach meiner Wahrnehmung ihre Frauenkrankheit mit wesentlich mehr Heldenmut als du.«
Seine Kollegin bedachte ihn mit einem tödlichen Blick.
»Arschloch!«
Für etwa zehn Minuten herrschte Funkstille im Auto. Dann hisste Hartmann die weiße Fahne.
» Sorry . Ich weiß, wie du leidest, wenn du deine Tage hast, und sollte dich nicht damit aufziehen. Das war echt blöd von mir.«
In diesem Moment raste ein tiefergelegter VW-Jetta mit blauer Unterbodenbeleuchtung aus Richtung Holländische Straße auf sie zu, bremste kurz ab und jagte mit quietschenden Reifen auf das Ende der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße. Wohl im letzten Moment vor der geplanten 180-Grad-Wende nahm der Fahrer den Streifenwagen wahr, beschleunigte weiter geradeaus und verschwand aus dem Blickwinkel der Polizisten. Evelyn Brede richtete sich auf und griff zum Zündschlüssel, doch Hartmann schob ihre Hand zurück.
»Lass sein. Unser Auftrag lautet, für eventuelle Übergriffe hier im Kiez in Bereitschaft zu stehen und ansonsten die Dinge im Auge zu behalten. Damit ist nicht gemeint, sich mit einem hormongestörten 20-Jährigen eine Verfolgungsjagd zu liefern.«
Sie ließ sich zurücksinken.
»Hast recht. Warum soll ich mich in meiner Verfassung noch mit so einem kleinen Pisser und seinem aufgebrezelten Jetta rumärgern.«
Wieder kehrte Ruhe im Wagen ein. Offenbar hatte die Polizistin die Entschuldigung ihres Kollegen akzeptiert. Ab und zu kam eine Meldung über den Funk, aber keine war für sie bestimmt.
Das Viertel vom Holländischen Platz bis zum Ende der Holländischen Straße, dort, wo die beiden in ihrem Streifenwagen saßen und sich langweilten, war seit vielen Jahren fest in türkischer Hand. Das alte Arbeiterrevier mit den großen Industriebetrieben in der Nähe und billigem Wohnraum en masse war schon Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als die ersten türkischen Gastarbeiter ins Land strömten, zu einer dauerhaften Heimat für diese Menschen geworden und es bis heute geblieben; mit all dem Charme, aber auch den Problemen, die sich daraus entwickelten. So hatten in den letzten Jahren zunehmend schwer kriminelle Jugendgangs das Sagen im Viertel übernommen, und selbst die Einwanderer der ersten
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