Zirkusluft
Generation standen der Entwicklung kopfschüttelnd und hilflos gegenüber.
Evelyn Brede gähnte, streckte sich und sah nach rechts, wo ihr Kollege schnarchend und mit zur Seite geneigtem Kopf schlief. Der Nachrichtensprecher im leise dudelnden Radio hatte soeben vermeldet, dass es 2 Uhr war. Die Polizistin legte die Hände ineinander, ließ die Finger laut knacken und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass es im Auto eine Nuance dunkler wurde. Sie drehte irritiert den Kopf nach links und zuckte erschrocken zusammen. Der unförmig lange Lauf der Pistole, die im orangefarbenen Schein der Straßenlampe vor dem Fenster glänzte, war direkt auf ihren Kopf gerichtet. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schossen der jungen Frau sämtliche Stresshormone ins Blut und jagten durch ihren Körper. Mit angstgeweiteten Augen und unfähig, sich zu bewegen, fixierte sie die Waffe. Wie in Trance sah sie in das Gesicht des Fremden, der eine dunkle Mütze trug und dessen Atem in der kalten Nachtluft deutlich sichtbar kondensierte. Nun tauchte neben der Pistole die andere Hand des Mannes auf, die ebenfalls in einem engen schwarzen Handschuh steckte, schob den Zeigefinger nach vorn und machte damit eine kreisende Bewegung. Zunächst verstand die Polizistin nicht, dann wurde ihr klar, dass sie die Seitenscheibe öffnen sollte. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung, einem Ausweg, aber ein solcher Überfall war in keinem Polizeilehrgang trainiert worden.
Mit vorsichtigen Bewegungen legte sie beide Hände gut sichtbar auf das Lenkrad, bevor ihre linke Hand langsam an der Innenverkleidung der Tür abwärtsglitt und nach dem Taster des elektrischen Fensterhebers suchte. Währenddessen blieben ihre Augen auf die Waffe vor der Scheibe fixiert. Dann hatte sie den Knopf gefunden und drückte ihn vorsichtig nach unten. Sie wartete ein paar Augenblicke, aber es passierte nichts. Mit stärkerem Druck probierte sie es erneut, doch die Scheibe bewegte sich noch immer nicht. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich nun, und Panik schnürte ihr die Kehle zu. Mit einem leichten Kopfschütteln hob sie den Blick und sah dem Mann wieder ins Gesicht. Erst jetzt nahm sie den großen, dunklen, buschigen Oberlippenbart wahr, den der Mann trug. Wieder bewegte der Zeigefinger der freien Hand sich und deutete auf einen Punkt hinter dem Lenkrad. In diesem Moment wurde der Frau klar, dass sie die Zündung einschalten musste, um die Scheibe in Gang setzen zu können. Ebenso vorsichtig, wie ihre linke Hand zur Tür gelangt war, schob sie nun die rechte nach vorne und griff nach dem Zündschlüssel. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sie von der Idee durchzuckt, den Schlüssel einfach bis zum Anschlag weiterzudrehen und das Gas durchzutreten, doch ein kurzer Blick nach rechts, zum Wahlhebel der Automatik, schob diesem Gedanken einen großen, dunkel eingefärbten Riegel mit der Aufschrift P wie Parkstellung vor. Also griff sie nach dem speckigen Kunststoffoberteil des Schlüssels und drehte ihn ganz langsam nach rechts, bis die Anzeigelampen im Armaturenbrett aufleuchteten und die Lüftungsanlage zu summen begann. Danach ertastete ihr linker Mittelfinger erneut den Auslöser des elektrischen Fensterhebers und drückte ihn nach unten. Mit einem harten, quietschenden Geräusch löste sich die kalte Scheibe vom oberen Ende des Rahmens und setzte sich in Bewegung.
Klaus Hartmann auf dem Beifahrersitz unterbrach sein Schnarchen, schmatzte mehrmals und drehte den Kopf nach links. Dann zog er mit geschlossenen Augen die Schultern hoch, strich sich einige Male mit den Händen über die Ellenbogen, stöhnte kurz auf und schob den Kopf wieder zur Beifahrertür.
»Ganz schön kalt hier. Willst du uns umbringen?«, nuschelte er schlaftrunken. Evelyn Brede sah kurz nach rechts, antwortete ihm jedoch nicht und hoffte inständig, dass ihr Kollege weiterschlafen würde. Mit bedachten, vorsichtigen Bewegungen umfasste sie erneut das Lenkrad, sodass der Mann auf der anderen Seite der Tür ihre Hände sehen konnte, hielt es fest umklammert und sah ihm ins Gesicht.
In diesem Moment warf Hartmann unvermittelt den Kopf herum, schnaubte, zog die Lider hoch und betrachtete mit völligem Unverständnis die Szenerie, die sich ihm bot.
»Was…?«, fing er an, doch seine Kollegin fuhr ihm ins Wort.
»Ganz ruhig, Klaus. Hier gibt es ein Problem, aber es wird nichts passieren. Bleib bitte vernünftig und mach keinen Blödsinn.«
Nun riss der Polizist die Augen auf,
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