Zitadelle des Wächters
seien innerhalb seiner Grenzen entstanden und hätten erlernt, auf dem übersäten Boden mit seinem Meer an Stämmen zu manövrieren und tollkühn über die Wipfel des riesigen Waldes zu laufen.
Man sagt auch, Pindar und Eyck werden wahrscheinlich nie zu einem Frieden miteinander kommen. Der Anspruch auf die „wirklichen“ eigenen Grenzen ist stets eine höchst delikate Angelegenheit, besonders bei solchen Staaten, deren Selbstbewußtsein noch auf sehr wackeligen Füßen steht. Und in diesem bedauernswerten Zustand befinden sich Pindar und Eyck. Und ihre Regierungssysteme sind nicht weit von dem entfernt, was mancher eine „Operettendiktatur“ nennen mag. Tatsächlich lautet einer der sich am hartnäckigsten haltenden politischen Witze in G’rdellia, einem Nachbarstaat der beiden, der über etwas mehr Kultur verfügt, so: Wer regiert Pindar eigentlich in dieser Woche?
Und da die einzigen beständigen Exportartikel dieser beiden Staaten richtigerweise folgendermaßen beschrieben werden: Unruhe, Haß und Mißtrauen, kann man die beiden getrost ignorieren, wenn man die Welt als Ganzes ins Auge fassen will. Pindar und Eyck sind nicht mehr als die fußkranken Stiefkinder einer Welt, die sich nur marginal in einem besseren Zustand befindet, sich aber trotzdem lieber weigert, diese Grundwahrheit anzuerkennen.
Es ist eine Welt der ungeheuren Ignoranz, der sich galoppierend ausbreitenden Pest, der kleinlichen Ungerechtigkeit, der ungeminderten Gerüchte, des frühen Tods und einer bedeutungslosen Existenz. Es ist eine Welt, in der der Geist der Menschheit manchmal brillant, manchmal verrufen die treibende Kraft, der Brennstoff im Hochofen der Zivilisation, verschwunden ist. Die vielleicht betrüblichste Hinterlassenschaft ist der Umstand, daß dieses Verschwinden in einem langsamen und häßlichen Prozeß vonstatten geht. Der Geist verließ die Welt nicht in der hochlodernden Flamme eines glorreichen Krieges, sondern er kroch während der langen Nacht der Ignoranz und Furcht von dannen. Der Prozeß verlief so langsam, so heimlich, daß niemand – praktisch niemand – das Verschwinden bemerkte. Oder besser: natürlich erst, als es schon zu spät war.
Aber man soll sich hüten zu sagen: Die Welt liegt im Sterben. Denn das ist ganz gewiß nicht der Fall. Präziser ausgedrückt könnte man vielleicht bemerken, die Welt überlebt ihrer Art zum Trotz und wird deshalb auch weiterleben.
Und in dieser Welt versuchen große Teile, ungetrübte Stücke und Stückchen, der Korrosion durch die Zeit zu entfliehen. Zum Beispiel ist ein großer Teil von einer launischen Wassermasse bedeckt. Die ist so blau wie die Augen eines vaisayanischen Mädchens und genauso wild und unberechenbar wie ihre Mutter und so trügerisch wie ihr Vater. Stürme und Ruhephasen spazieren Hand in Hand über die schimmernde Wasseroberfläche. Sie gewähren keinem Schiff und keinem Landstrich Schutz, und sie wollen auch kein Quartier. Vor allem gibt es da ein endloses, mürrisches Meer, das fälschlicherweise der Golf von Aridard genannt wird. Ganz sicher ist es kein Golf – es weist keinesfalls die nötige Ruhe und Gelassenheit aus, die dieser Begriff gewöhnlich assoziiert –, man muß es schon eher als kleinen Ozean bezeichnen. Ganz sicher aber führt er sich wie ein gehässiges Fräulein gegenüber den Staaten auf, die sich wie Landstreicher an einem großen Feuer an den Küsten niedergelassen haben. Der Golf von Aridard – Brennpunkt der Welt.
Genau westlich des Golfs liegt das Sonnenlose Meer – so bezeichnet wegen des kalten Dunstes und des Wassernebels, die immer und ewig die Sonne am fernen Horizont verdecken. Das Sonnenlose Meer
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