Zitadelle des Wächters
vergraben und rostend in der unerbittlichen Sonne. Die Zeit lastet schwer auf diesem Ort, und man verspürt den Geruch des Todes, der über den Sandmassen schwebt wie ein Rabe, der nur auf die Chance wartet, wieder einmal zuschlagen zu können. Der Geruch wird angereichert von Maschinenöl und Kordit, von Blut und Zerfall. Man nimmt an, daß hier einmal eine riesige Schlacht stattgefunden hat, wo alle Stämme der Welt auf einem Fleck zusammenströmten, um eine endgültige Entscheidung zu erzwingen. Und danach waren auf ewig die Waffen und bleichenden Knochen in den Boden eingeätzt worden – wie eine grimmige, intolerante Elfenbeinschnitzerei. Einige behaupten, diese Schlacht auf den Eisenfeldern sei das Ende der Ersten Zeit gewesen. Andere dagegen meinen, dies sei nur die letzte eines endlosen Zyklus von Endzeitschlachten gewesen, und die Bezeichnung „Erste Zeit“ sei vielleicht falsch – man sollte sie zutreffender mit „Vorangegangene Zeit“ umschreiben. Aber wer will das entscheiden? Es liegen keine Beweise vor, die die Argumente einer Seite widerlegen könnten – oder überhaupt ein Argument in diesem Zusammenhang. Ein Beweis ist im Vorhandensein der geborstenen Maschinen gegeben, ein Beweis, der voll Kummer sagt: Wir waren hier, und auf diese Art haben wir gekämpft, und hier sind wir gestorben. Die Geheimnisse überlebten den Tod der Armeen, und niemand kann behaupten, er wüßte, wer diesen Ort zum Kämpfen und Sterben aufgesucht hat.
Die Frage ist philosophisch, und wie bei den Myriaden von anderen Fragen, die den menschlichen Geist plagen, gibt es einige Orte, wo sie einem eher in den Sinn kommen als anderswo. Ein solcher Ort liegt nördlich des G’rdellia-Meeres: das kleine Fürstentum Odo. Wie das Shudrapur-Dominion den Bauch der Welt vorweist, wie Nespora die Welt mit Geldbörsen versorgt und G’rdellia mit der Ästhetik, so verschafft Odo der Welt den Geist. Seine Hauptstadt Voluspa ist ein ehrwürdiger Ort. Man sagt, sie sei auf den Ruinen von sieben anderen großen Städten erbaut worden, die alle an der gleichen Stelle gestanden haben sollen. Voluspa hat ein kosmopolitisches Flair und ist mit Kirchen, Moscheen und Tempeln übersät. Ihr Horizont gleicht einem Wald aus Türmen und Minaretten, jeder von ihnen wetteifert darum, den ersten Lichtstrahl des leuchtenden Morgengrauens und den letzten der schwindenden Dämmerung einzufangen. Jede Religion, jede Sekte, jede philosophische „Schule“ hat es zu den Gestaden Voluspas gezogen, und jede einzelne hat irgendwo im Labyrinth der Straßen und Alleen ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Universitäten und Bibliotheken drängen in den antiken Gebäuden nach Raum, und die Boulevards sind überfüllt vom geschäftigen Treiben der Mönche und Priester, die Straßenecken versperrt von Propheten und Weissagern. Voluspa ist eine Stadt – nein, vielmehr ein ganzes Land –, angefüllt mit Studieren, respektvoller Diskussion, Höflichkeit und natürlich den religiösen Riten und Übungen. Die Große Bibliothek von Voluspa – sie ruht auf einem gigantischen Steinwürfel auf den Klippen und bietet einen Ausblick auf die Straße von Nsin, enthält die größte Sammlung der Welt an Originalmanuskripten, Mikrofilmen, Nachrichtenmeldungen, Reproduktionskristallen und anderen Trägermedien, Erstlingsdrucken und Pergamenten. Lehrer, Schüler und lediglich Neugierige pilgern zu der Großen Bibliothek, um die Gedanken und Geheimnisse vergangener Jahrhunderte zu ergründen. Und wiederum hatte die Ironie ihre Hand bei der Demographie und geographischen Lage der modernen Welt im Spiel: Odo, das
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