Zitronen im Mondschein
sie weg, sie konnte seine Armmuskeln an ihrem Oberkörper spüren und die Träger seines Trikots.
»Sind Sie wach, Mira?«, fragte Otto. Sein Gesicht schwebte über ihr, sie lag lang ausgestreckt auf einer niedrigen Bank, eine zusammengerollte Decke unter dem Kopf. Als sie nach oben fuhr, zog er den Kopf zurück. Gleichzeitig setzte sich der Raum in Bewegung, er begann um sie herum zu kreisen, so dass sie sich wieder auf die Bank zurücksinken ließ.
»Langsam«, sagte Otto. »Immer mit der Ruhe.«
»Was ist geschehen?«, fragte sie, aber im selben Moment erinnerte sie sich an die drei Frauen und dass sie ohnmächtig geworden war und ihr Vater sie gehalten und weggetragen hatte.Nein, Unsinn, nicht ihr Vater, das hatte sie sich natürlich nur eingebildet. »Haben Sie mich aufgefangen?«
»Ich war viel zu weit weg«, sagte Otto. »Ein anderer Herr war so freundlich. Obwohl es meiner Meinung nach nicht ganz freiwillig geschah. Sie sind ihm sozusagen in den Schoß gefallen.«
»Gütiger Himmel!« Mira schloss wieder die Augen. Dann setzte sie sich vorsichtig auf. Man hatte sie in den Abstellraum hinter der Küche gebracht.
Aus irgendeinem Grund hatte ihr jemand die weiße Schürze ausgezogen, die nun zusammengefaltet neben ihr auf der Bank lag. Miras Hand fuhr erschrocken zur Knopfleiste ihrer Bluse. Nur die obersten drei Knöpfe waren geöffnet. Zumindest hatte ihr niemand das Mieder aufgerissen, um ihr Luft zu verschaffen. »Und Sie? Was machen Sie hier?«
»Irgendjemand musste sich doch um Sie kümmern«, meinte Otto. »Da habe ich mich angeboten.«
»Man hat Sie einfach so mit mir allein gelassen? Aber wir kennen uns doch kaum.«
Er grinste. Dabei zwirbelte er eine Zigarette zwischen Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger seiner rechten Hand. Es machte sie schwindlig, ihm dabei zuzusehen, aber sie konnte die Augen auch nicht abwenden. »Ich habe Ihrer Kollegin erzählt, ich sei ein alter Bekannter. Der Verlobte Ihrer Freundin.«
Sie schnaubte verächtlich. »Wunschdenken!«
»Sei’s drum. Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Gut. Es war ein langer Tag. Und so schwül. Ich war wohl einfach … erschöpft.«
»Das war aber nicht der Grund, weshalb Sie die Besinnung verloren haben«, sagte er ruhig.
Ihre Blicke begegneten sich, bis Mira die Augen wieder abwandte.
»Sie waren außer sich«, sagte er.
Sie zuckte mit den Schultern, griff nach der Schürze und schlüpfte hinein. Um die zwei Knöpfe auf dem Rücken zu schließen, hätte sie seine Hilfe gebraucht, aber sie wollte ihnnicht fragen, also band sie nur die beiden Schürzenbänder zusammen.
»Ich habe Sie beobachtet«, meinte er. »Was hat Sie so aufgewühlt?«
Die drei Frauen tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Wie vorhin auf der Terrasse schauten sie Mira nicht an, sondern blickten in eine andere Richtung. Verschwindet! befahl sie ihnen in Gedanken und sah mit Befriedigung, wie sich ihre Umrisse auflösten und ihre Gestalten zerflossen.
»Es war nichts«, sagte sie laut und stand dabei auf. »Nur ein Schwächeanfall.«
Er musterte sie gedankenvoll, dann erhob er sich ebenfalls von seinem Stuhl und ging zur Tür. Die Zigarette wanderte zwischen seine Lippen.
»Ich bringe Sie jetzt nach Hause«, sagte er, ohne die Zigarette dabei aus dem Mund zu nehmen. Dieselben Worte wie in der Bar zum Roten Kakadu. Damals war sie betrunken gewesen, aber jetzt war sie ganz klar im Kopf. Ihr war nicht mehr schwindelig. Sie hatte die Gespenster vertrieben. Die Vergangenheit war vergangen.
Sie lebte jetzt und hier, frei und unabhängig und allein, so wie sie es sich immer erträumt hatte.
Er zündete seine Zigarette an, blies den Rauch durch die Nasenlöcher und bot ihr dann seinen Arm. Sie schüttelte den Kopf.
»Vielen Dank«, sagte sie. »Aber ich komme schon zurecht.«
Zweites Kapitel
I.
Sie hörte die Musik schon eine ganze Weile lang. Das Knarren der Kartätschen, das Rasseln der Tamburins und die juchzende Geige. Es war Juli 1904. Der Wanderzirkus kam nach Vellberg, ins Hohenlohische Land, wie jedes Jahr um diese Zeit. Die fröhliche Melodie wurde immer lauter, aber dann legte sich Lenes schrille Stimme über die Töne. Die Worte gellten über die Mauer, noch bevor ihr aufgeregtes Gesicht in der Toröffnung erschien. »Rosa, nimm die Wäsche von der Leine! Die Zigeuner kommen!«
Als niemand reagierte, hielt die alte Frau keuchend inne. Ihr Blick flog durch den Hof, über die Brüder, die in einer Pfütze mit ihren Holzpferden spielten, zu Maria,
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