Zitronen im Mondschein
entweder nicht hörte oder schon einen Gast hatte, in jedem Fall ließ er den Gaul an ihnen vorbeitraben.
»He, hallo!« Pechstein riss den Hut vom Kopf und winkte damit einer Droschke auf der anderen Seite der Straße, aber auch diese fuhr weiter. »Meine Herren, ist das kalt!«, schimpfte er und setzte den Hut wieder auf.
»Hör auf zu wüten! Wir gehen zum Droschkenplatz, da findet sich immer ein Fahrzeug.«
»Was hast du denn so Wichtiges vor, dass du die Fresken für den Seidenstrumpffabrikanten nicht selbst malen willst?«, fragte Ludwig, als die stuckverzierten Fassaden des Kurfürstendammskurze Zeit später vor dem Droschkenfenster vorbeiglitten wie die gemalten Kulissen einer Theaterbühne. Die Straßenlaternen tauchten alles in ein kaltes, künstliches Licht.
»Palau«, gab Pechstein nur kurz zurück.
»Immer noch? Du willst also tatsächlich Ernst machen? Und deine Frau? Ist sie immer noch so begeistert von der Idee wie zu Anfang?«
»Ach … sie wird schon noch zur Einsicht kommen, wenn sie erst einmal ganz begriffen hat, was für eine einmalige Erfahrung die Reise für uns darstellen wird. Ich sehe ja ein, dass es nicht ganz einfach ist für sie. Immerhin lässt sie ihre Familie zurück, Freunde und alles Vertraute …«
»Und euer neugeborenes Kind«, unterbrach ihn Ludwig spöttisch. Seit Wochen schon sprach Pechstein von nichts anderem, als dass er der Berliner Großstadthektik den Rücken kehren wollte, um für einige Zeit – Monate oder Jahre, so genau schien er es selbst nicht zu wissen – nach Mikronesien zu gehen. Palau hieß die Inselgruppe, von der Ludwig noch nie zuvor gehört hatte, eine deutsche Kolonie, wie Pechstein ihm versichert hatte. »Urtümlich«, hatte er Ludwig erklärt. »Wild und unberührt. Die Menschen unzivilisiert und vulgär und rassisch echt.«
»Woher willst du das denn wissen, wenn du noch nicht da gewesen bist?«, hatte Ludwig gefragt.
»Das ist es ja gerade. Ich bin noch nicht da gewesen, keiner ist bislang da gewesen, also jedenfalls kein kultivierter Europäer.«
»Nun, der eine oder andere Deutsche muss wohl dort gewesen sein, sonst wäre es doch keine deutsche Kolonie.«
»Ach, die Kolonialherren scheren sich doch einen Dreck um die Eingeborenen. Aber ich, ich werde sie kennenlernen, sie und ihre Kunst und ihre ganze wilde Art.«
Pechstein wollte die Eingeborenen kennenlernen. Und Charlotte, seine Frau, musste mit, obwohl sie Pechstein erst vor ein paar Monaten einen kleinen Sohn geboren hatte.
»Aber wir brechen ja nicht gleich morgen auf. Im Sommer, frühestens im Mai, ist es so weit«, erklärte Pechstein jetzt. »Bisdahin ist er fast ein Jahr und kann gut bei den Großeltern bleiben.«
Ludwig zuckte mit den Schultern. Er selbst hatte keine Kinder und fand allein die Vorstellung, eine Familie zu haben, durch und durch beklemmend. Eine Frau, die man liebte, das war eine Sache. Schreiende, lärmende, rotznäsige Kinder hingegen, die einem am Rockzipfel hingen und alles einengten … Die Droschke bog so schwungvoll um die Ecke, dass Pechstein gegen Ludwig gedrängt wurde und Ludwig gegen die Wand. Vielleicht will er allein deshalb nach Mikronesien, dachte Ludwig, während sie sich wieder von einander befreiten, um dem schreienden Balg zu entkommen.
»Aber wenn ihr nicht vor Mai aufbrechen wollt, dann bleibt dir doch noch genügend Zeit, den Auftrag selbst auszuführen«, meinte er dann.
»Das Haus wird doch gerade erst gebaut. Die eigentliche Arbeit beginnt nicht vor April oder Mai«, meinte Pechstein. »Es sollen aber jetzt schon Entwürfe angefertigt werden, die dann im Sommer auszuführen sind.«
Er kritzelte Castenows Adresse und Telefonverbindung auf einen Briefumschlag und reichte ihn Ludwig. »Geh in den nächsten Tagen hin, oder ruf ihn an«, meinte er. »Lass ihn nicht allzu lange warten, dass kann er nicht ausstehen.«
»Ich kann ja gleich jetzt noch vorbeigehen«, meinte Ludwig und gähnte unwillkürlich beim Gedanken an den reichen Fabrikanten im Schlafrock am knisternden Kamin.
»Wenn du den Auftrag nicht willst, ist das eine wunderbare Idee«, sagte Pechstein.
Am Ende der Straße tauchte der Anhalter Bahnhof auf, die drei halbrunden Eingangstore, darüber die stolz geschwungene breite Kuppel der Bahnhofshalle. Die Fassade war elektrisch beleuchtet und wirkte dadurch seltsam unwirklich wie das Gebäude einer Spielzeugeisenbahn.
»Wo fährt dieser Kretin uns denn hin?«, fragte Pechstein. Er beugte sich nach vorn und klopfte gegen
Weitere Kostenlose Bücher