Zitronen im Mondschein
bleiben.« Sie warf den hübschen Kopf in den Nacken und drehte sich schwungvoll weg.
»Nee, nich doch, Kleine, wer wird denn gleich einschnappen«, sagte Pechstein schnell. Er legte seinen Arm um Rosas Schulter, zog sie an sich heran und kniff ihr in die volle Wange. »Dass du eine ganz große Nummer bist, das hab ich doch schon lange festgestellt«, flüsterte er ihr dabei zu.
Ludwig konnte nicht hören, was Rosa darauf antwortete. Er wollte es auch nicht hören. Er ging wieder nach vorn an die Bar und bestellte einen Absinth.
»Wie war die Rosa?«, erkundigte sich Mitzi, als sie ihm das hohe Glas mit der smaragdgrünen Flüssigkeit reichte. »War es sehr grässlich?«
»Schwer erträglich.« Ludwig setzte das Glas an die Lippen, kippte den gesamten Inhalt in seinen Mund und schluckte. Es war ein Gefühl, als ob sich in seinem Magen ein Regenschirm öffnete und wieder schloss.
»Sehr zum Wohlsein«, sagte Mitzi und verzog das Gesicht.
»Danke.« Ludwig wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Im Hinterzimmer legten das verstimmte Klavier und der Kontrabass wieder los. »Du meine Güte, es geht weiter.«
»Aber nicht mit Rosa«, beruhigte ihn Mitzi. »Sie hat nur die beiden Stücke einstudiert, die sie bereits zum Besten gegeben hat. Mehr steht nicht zu befürchten.«
Sie lachte, während sie ihre langen Handschuhstulpen bis zu den Ellenbogen zurückschob und Ludwigs leeres Glas kopfüber in die Spülschüssel tauchte. Ihre Unterarme waren rauund rot. Mit einem Mal wirkte sie nicht mehr wie ein Barmädchen, sondern wie eine einfache Bauernmagd, trotz der Feder im Haar und dem ausgeschnittenen Kleid, und zu seiner Überraschung stellte Ludwig fest, dass ihn das erregte.
»Was ist?«, fragte sie. Ihre Hände hörten auf zu spülen, sie hob den Kopf und lächelte ihn an. Aber da war sein Interesse auch schon wieder verflogen.
»Ich gehe einmal nachsehen, was sie nun bringen«, sagte er. Auf dem Weg ins Hinterzimmer spürte er ihre enttäuschten Augen in seinem Rücken – eines blau, eines grün.
Auf der Bühne stand jetzt ein junger Mann, den Ludwig schon einmal gesehen hatte, aber nicht einordnen konnte. Er war recht klein, und mit seinen kurzen dunklen Haaren und den vollen Lippen passte er so gar nicht in den Kreis der mehr oder weniger angetrunkenen Bohemiens. »Hochverehrtes Publikum, liebe Anwesende«, begann er förmlich mit einer lauten, sehr selbstbewussten Stimme, die in einem seltsamen Widerspruch zu seinem bübchenhaften Äußeren stand. »Ich möchte mir erlauben, Ihnen ein Gedicht zu rezitieren.«
Er schwieg und wartete, bis die Unterhaltungen und das Gelächter im Saal nach und nach versickerten wie Wasser in einem Abfluss.
»Weltende«, begann er dann, und im selben Moment fiel Ludwig wieder ein, wer der Mann war. Jakob van Hoddis, ein Dichter, durch und durch verrückt und avantgardistisch.
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Es war sein bekanntestes Gedicht, die meisten im Saal hatten es schon einmal gehört, aber so wie er es vortrug, klang es neu und unbekannt. Sein Ton war nicht mehr laut, er sprach leise, aber sehr eindringlich, so dass die Worte etwas ungeheuer Bedrohliches bekamen.
Er weiß etwas, das wir nicht wissen, dachte Ludwig und spürte, wie sich in der verrauchten, verschwitzten Kneipe plötzlich ein Gefühl der Einsamkeit in ihm ausbreitete, eine Angst und eine innere Kälte, gegen die er die Arme vor der Brust verschränkte und die Schultern hochzog, aber es half nichts. Er sah van Hoddis an, dessen Nachname nicht sein richtiger war, es war ein Pseudonym, das er aus den Buchstaben seines echten Namens gebildet hatte, auch das fiel Ludwig jetzt wieder ein. Davidsohn hatte er ursprünglich geheißen, Jakob Davidsohn. Aber van Hoddis blickte nicht zurück, er starrte über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg und schien irgendetwas zu sehen. Ludwig drehte sich unwillkürlich um und blickte ebenfalls in die Richtung, in die van Hoddis sah. Da war jedoch nichts, nur das rechteckige Fenster über der Tür zur Bar, hinter dem alles schwarz war und undurchsichtig.
Er ging wieder nach vorn und trank noch zwei Absinth, dann ging
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