ZITRONENLIMONADE (German Edition)
ergriff und zu essen begann. Als sie laut und deutlich für ihre Kollegen
bemerkte, "Okay, Frau Salten braucht keine Hilfe, sie kann allein essen",
fühlte ich mich, als ob ich in der Schule gerade ein Fleißkärtchen erhalten
hätte. Bevor sie sich um die anderen kümmerte, stellte sie mir sogar noch meine
stumme Nachbarin, deren rechte Seite erkennbar leblos war und die sehr unbeholfen
mit ihrer linken Hand (Sie schien im Gegensatz zu mir keine Linkshänderin zu
sein) auf ihrem Teller herumstocherte, vor: "Frau Salten? Das neben Ihnen
ist Frau Leisters. Sie versteht alles, kann aber nicht sprechen. "Das
nette Gesicht meiner schätzungsweise fünfzigjährigen Nachbarin verdüsterte sich
bei den Worten der Schwester und sie sah aus, als wolle sie gleich in Tränen
ausbrechen.
In diesem Moment betrat ein großer schlanker Mann
Mitte Fünfzig den Raum und steuerte lächelnd direkt auf sie zu. Er beugte sich
liebevoll zu ihr hinunter, umarmte sie und gab ihr einen Kuss und sie strahlte
ihn derart glücklich und dankbar an, dass ich vor lauter Rührung einen Kloß im
Hals verspürte.
Herr Leisters, wie er sich mir gleich
darauf vorstellte, erklärte mir, dass seine Frau einen Schlaganfall gehabt
hatte, vorläufig rechtsseitig gelähmt sei und alles verstünde, aber leider noch
nicht reden könne. Er betonte dabei ausdrücklich die Worte "vorläufig"
und "noch".
Er kümmerte sich rührend um seine Frau.
Später erfuhr ich, dass er selbstständiger Versicherungsvertreter war, sich
seine Zeit frei einteilen konnte und deshalb so oft es ging, hier am Bodensee
seiner Frau, mit der er dann Ausflüge oder Spaziergänge unternahm, Gesellschaft
leistete oder sie zu ihren diversen Therapien begleitete. Er scheute auch nicht
vor den unangenehmeren Aufgaben wie Waschen, Anziehen oder seiner Frau auf die
Toilette zu helfen, zurück. Er war eine Ausnahme unter den Männern, deren Frauen
schwere Krankheiten erlitten.
Schwester Alina, mit der ich mich eine
Woche später während des morgendlichen Dusch- und Anziehrituals lebhaft
unterhielt, erklärte mir in drastischen Worten, dass " neunzig Prozent aller Mannsbilder,
deren Frauen hier auf der Station landen, irgendwann "die Fliege
machen" und sich ein "neueres gesundes Ehefrauen- oder Freundinnenmodell"
zulegten! Während Frauen, die ja ohnehin meist den Mutterinstinkt und ein
eingebautes Pflege-Gen besitzen, sich im umgekehrten Fall zu neunzig Prozent um
ihren plötzlich hilflosen Gatten aufopfernd kümmerten! Ich musste heftig
schlucken.
Und was war mit den Männern, die noch nicht
mal mit der Betroffenen verheiratet waren? Ich betete zu Gott, dass Mark nicht auch auf die Idee mit dem
Austauschmodell kommen würde. Seine drei bisherigen Besuche hier auf der
Station hatten seinem in dieser Hinsicht zartbesaiteten Gemüt einiges an
Beherrschung abverlangt.
Bei seinem ersten Besuch war er direkt
zur Essenszeit gekommen. Mir gegenüber am Tisch saß Ralfie, der blasse dickliche
Junge mit dem Stinkefinger. Ralfie war achtzehn und raste als frischgebackener
Führerscheinbesitzer mit 180 Sachen im Porsche seines Vaters über eine Landstraße,
bis ihn ein entgegenkommender Traktor stoppte und als Schatten seiner selbst in
den Rollstuhl beförderte. Seine Spezialität waren obszöne Gesten, vor allem
Frauen gegenüber und beinahe ständig musste ihn das Personal dran hindern, sich
seine Hose runterzuziehen, um seine Kronjuwelen vor zu zeigen. Sein Sweatshirt
rollte er im Laufe des Tages wohl hundertmal nach oben und entblößte seinen
schwabbeligen weißen Bauch. Dazu lachte er laut und glucksend.
Er hatte seit dem Unfall ungefähr den
geistigen Stand eines Dreijährigen - nur sein Sexualtrieb war ausgeprägter als
normalerweise in diesem Alter - und entsprechend waren seine Tischmanieren.
Ungeniert schmatzte, rülpste und …(Sie können sich es vermutlich denken) er in Extremlautstärke. Und war Ralfie gerade
schlecht drauf, was sehr oft der Fall war, konnte es vorkommen, dass er seinen
gesamten Mundinhalt wieder ausspuckte, mit Vorliebe auf den, der ihn fütterte.
Beim Essen in seiner Sichtweite zu
sitzen, war besser als jede Diät: Man verspürte keinerlei Hunger mehr, nur eine
latente Übelkeit. Gleichzeitig tat er mir wahnsinnig leid, weil mir Michael im
Vertrauen erzählte, seine sehr gut betuchten Eltern würden sich überhaupt nicht
um ihn kümmern, seien noch nie zu Besuch gekommen und sobald er die Reha hinter
sich habe, würde er in ein Pflegeheim
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