Zitronentagetes
der Erheiterung erstarb, als Marc nach ihrer Hand tastete. »Bitte bleib«, formten seine Lippen lautlos.
»Nun, ich …«
Falls Myers die Situation in irgendeiner Weise befremdlich fand, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Etwas an dem Mann kam Flo seltsam bekannt vor.
Marc fühlte sich überrumpelt, so gut kannte sie ihn bereits. Liz schob kaltes Metall unter den Verband und begann, die Lagen zu durchtrennen. Flos Blick wanderte unentschlossen umher und blieb an Marcs Gesicht hängen. Ein Frösteln überzog ihren Rücken. Er hatte Angst.
Geh nicht! , flehten seine Augen sie an, bevor er sich abwandte und die weiße Zimmerdecke anstierte.
Flo setzte sich auf die Bettkante. Marc lehnte sich an sie, war sich dessen aber nicht bewusst. Er schien nicht zu merken, dass seine Hand die ihre fest umklammerte.
Stattdessen brach ihm der Schweiß aus. Sie beobachtete das Zucken an seiner Halsschlagader.
»Schauen Sie auf Ihr Bein, Mr. Cumberland.«
Ganz sicher nicht – stand Marc ins Gesicht geschrieben. Und auch: Was bildete dieser Fatzke sich eigentlich ein?
Flo hielt vor Anspannung die Luft an.
»Habe ich zu undeutlich gesprochen?« Myers Frage klang scharf wie ein Peitschenhieb.
»Was?« Marc fühlte sich nur zu deutlich in die Enge getrieben. Auf Myers seelenruhige Gnadenlosigkeit war er wohl nicht vorbereitet.
»Mr. Cumberland, Sie haben keine Wahl, als sich fortan mit den Veränderungen Ihres Körpers abzufinden. Ansonsten können Sie nie wieder vernünftig laufen. Tun Sie sich einen Gefallen und sehen Sie sich Ihr Bein an. Ein anderes werden Sie nicht mehr bekommen.«
Marc schloss die Augen.
Die Szene erinnerte an ein bockiges Kind, das, wenn man es ausschimpfte, einfach die Welt ausblendete.
Zu ihrem Erstaunen drang Myers nicht weiter in ihn, sondern zog mit einem Ruck die Mullkompresse von der Narbe. Marc zuckte zusammen. Als sich die Finger des Arztes in die Muskeln seines Stumpfes bohrten, begann er zu zittern und mit den Zähnen zu knirschen.
Flo wischte behutsam eine einsame Träne von seiner Wange. »Entschuldigung«, sie konnte sich beim besten Willen nicht länger zurückhalten. »Dr. Myers, könnte … äh … könnte es sein, dass sie ihm wehtun? Ich meine, nicht absichtlich, natürlich. Aber es ist sicher fürchterlich unangenehm, was Sie da tun. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit. Ich erinnere mich, als ich im Anschluss an eine große Wirbelsäulenoperation – ich war damals fünfzehn, müssen Sie wissen …«
*
Marc stöhnte innerlich. Musste diese Frau ausgerechnet jetzt ihre Quasselleidenschaft wieder aktivieren? Er öffnete die Augen und sah zu ihr hinüber. Dabei streifte sein Blick unfreiwillig sein rechtes Bein. Er fuhr zurück, als hätte ihn jemand geschlagen.
»Sie können sich davor nicht verschließen.« Myers berührte Marcs Schulter. »Es ist ein Glücksfall, dass Sie noch am Leben sind. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben Sie gekämpft. Kämpfen Sie weiter. Es ist verdammt schwer. Aber es lohnt sich. Wir alle hier wollen Ihnen dabei helfen. Lassen Sie es zu. Sie sind der Schlüssel – ohne Ihre Aktion sind wir machtlos. Gemeinsam können wir das Optimum in Ihrer Situation erreichen. Sie sind Planer, nicht wahr?«
Eine solche Frage hatte Marc nicht erwartet, und es war ihm herzlich egal, was das grüne Bürschchen von einem Arzt damit bezweckte. »Na und?«
Myers ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie entwerfen Häuser …«
»Falsch«, fiel Marc ihm ins Wort. »Ich plane die Versorgungsleitungen.«
»Ein Ingenieur also.«
»Ganz recht.«
»Dann verfolgen Sie bei jedem Projekt ein festes Ziel. Sie planen all Ihre Leitungen, müssen aber mitunter aus der Situation heraus Ihren Plan ändern. Sei es, weil die Baustruktur es erforderlich macht oder weil, bedingt durch das Zusammenwirken verschiedener Gewerke, die Maße immer mal wieder geändert werden müssen. Sie passen Ihren Plan entsprechend den neuen Gegebenheiten an.«
Amen.
»Ihr ursprüngliches Ziel lassen Sie dabei aber niemals aus den Augen. Immerhin haben Sie einen Auftrag – für den Sie auch bezahlt werden.«
Der Pinsel hätte Lehrer werden können. Marc beobachtete aus den Augenwinkeln, dass Flo mit ihrem Fuß wippte.
»In Ihrem Lebensplan war der Unfall sicherlich nicht vorgesehen. Nun müssen Sie umdisponieren, und zwar erheblich. Meine Aufgabe, oder die aller Therapeuten, ist es, eine Strategie zu planen, um das bestmögliche Behandlungsziel zu erreichen. Alle
Weitere Kostenlose Bücher