Zoë
fest«, bot Maud an.
»Nicht nötig«, sagte Bessie. »Der Padre hat sie gewarnt, dass sie für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren, wenn sie auch nur einen Fingernagel an das Tier legen. Stimmt’s, Padre?«
»Hab ich das?«, fragte der Padre hoffnungsvoll und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Das freut mich.«
»Ich will die Namen wissen«, verlangte ich.
»Schsch!«, machte Henry. Dabei legte er einen Finger auf die Lippen und zeigte auf Harlan, der während der ganzen Geschichte kein Wort gesagt hatte. Jetzt sah ich, wieso: Er war auf seinem Stuhl zusammengesunken und schlief tief und fest, den Kopf auf die Seite gelegt, den Mund weit offen. Kein schöner Anblick.
»Der Mann braucht dringend einen Zahnarzt«, bemerkte Bessie stirnrunzelnd.
Henry sah mich an. »Wie wär’s, wenn wir beide uns jetzt mal unterhielten?«
Die anderen redeten im Wohnzimmer weiter, und Henry und ich breiteten vor dem Kamin im Arbeitszimmer einen Schlafsack für Harlan aus und legten ein paar Kissen dazu. Ich machte es mir schon einmal in einem der beiden Sessel bequem, während Henry Feuer machte.
»Fred findet, ich habe dich vernachlässigt«, begann Henry, als er sich hinter seinen Schreibtisch setzte.
»Findest du das auch?«, fragte ich.
Er dachte einen Moment nach. »Siehst du das hier?«, fragte er dann und zeigte auf seine Stirn. Ich beugte mich vor und sah eine ganz feine Narbe, ähnlich einem gewundenen Fluss auf einer Landkarte. Normalerweise war sie unter Henrys Kopftuch verborgen, doch das nahm er jetzt ab, und darunter wurde der kahle Schädel sichtbar. Die Narbe reichte fast bis auf den Hinterkopf.
»Siebenundsiebzig Stiche«, sagte Henry. »Weil ich einmal nicht aufgepasst habe. Da ist mir eine Skulptur auf den Kopf gefallen. Ich hatte das Gewicht der oberen Hälfte nicht gleichmäßig auf die untere Hälfte verteilt. Das gab eine ziemlich üble klaffende Wunde.«
»Das tut mir leid«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
»Fred sagt, ich hab nicht gut genug auf dich aufgepasst. Er sagt, ich hab dir zu viel Freiheit gelassen und mich zu viel um meine Arbeit gekümmert. Er glaubt, dass uns die ganze Sache irgendwann auf den Kopf fallen könnte. Nach dem, was heute war, glaube ich, er könnte recht haben.«
»Ich war mein ganzes Leben lang auf mich allein gestellt«, sagte ich abwehrend. »Und hab meine Sache ganz gut gemacht.«
»Das hast du wirklich«, gab Henry mir recht. »Aber dabei hast du keinen Menschen an dich herangelassen, niemandem hast du vertraut. Und heute bist du ein wahnsinniges Risiko eingegangen.«
»Das musst du gerade sagen!«, protestierte ich. »Außerdem: Dir vertraue ich sehr wohl!«
»Zoë«, sagte Henry tonlos, »dein Kater hat mehr Vertrauen zu mir als du.«
Das tat weh. Ich senkte den Blick, ich wollte ihm nicht in die Augen sehen.
»Gibt es sonst irgendetwas, was du mir sagen willst?«, fragte er.
Ich dachte an den Bogen, der aus der Tasche des Jungen geragt hatte. Auf keinen Fall sollte der Junge Probleme kriegen.
»Du hast gesagt, du kennst den Jungen nicht.«
»Das stimmt auch«, antwortete ich. »Aber das Reh habe ich ein paarmal gesehen, auf dem Weg zwischen hier und der Hütte. Mit heute dreimal, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass ein anderes Tier in der Nähe war, das zu ihm gehörte, das ich aber nicht sehen konnte.«
Henry nickte.
»Bis heute habe ich gedacht, dass es einfach nur ein anderes Tier war.«
»Sonst noch was?«
»Du kennst die alte Holzhütte?«
Er nickte wieder.
»Ich hatte sie mir hergerichtet, richtig gemütlich hatte ich sie gemacht. Aber dann waren Hargrove und sein Cousin da und haben alles kurz und klein geschlagen, auch die Fenster, meine Sachen gestohlen, alles haben sie mir kaputtgemacht. Ich hatte in meinem Tagebuch über die Hütte geschrieben. In dem, das gestohlen wurde.«
Das Telefon läutete, und Henry antwortete. Es war der Sheriff. Während die beiden redeten, versuchte ich sie mir vorzustellen – den Sheriff mit fünf und Fred und Henry, die damals vielleicht so alt waren wie der Junge heute. Und dann dachte ich an den Jungen und das weiße Reh, die diese Nacht allein im Wald waren. Nach dem, was heute passiert war, hatte ich keine Hoffnung mehr, dass das Reh diese Jagdsaison überleben würde. Aber ich hoffte, dass es den beiden wenigstens jetzt gut ging.
Henry legte auf. »Der Sheriff sagt, im Ort weiß man auch nicht viel, nur dass der Junge offensichtlich nur vorübergehend hier ist und
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