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Zoë

Titel: Zoë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Carmichael
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sauer?«
    Er blickte in die Ferne, ans Ende der Einfahrt. »Sauer ist gar kein Ausdruck.« Ein paar Sekunden schwieg er, bevor er murmelte: »Er schickt mich weg.«
    »Wie bitte?«
    »Ins Internat.«
    »Oje.«
    Er zog eine kleine braune Papiertüte aus der Manteltasche und gab sie mir. Während ich sie aufriss, drehte er sich weg. Mein rotes Tagebuch! »Tut mir leid, dass ich es einfach genommen habe«, sagte er. »Und das mit der Hütte auch. Ich war es nicht, der sie demoliert hat, aber ich nehme an, das ist auch schon nicht mehr wichtig.«
    »Doch, das ist wichtig«, sagte ich. Dann standen wir nur beieinander und schauten in den Schnee.
    Ich dachte an das, was Harlan gesagt hatte – darüber, dass Mamas Tod mir auch Gutes gebracht hatte. Vielleicht konnte ja Hargrove nichts Besseres passieren, als dass er aufs Internat kam. Vielleicht hatte dieser Junge, der Kunst und Tiere so liebte, dort eine Chance, so zu sein, wie er wirklich war, wenn er erst einmal von seinem Vater wegkam. So wie ich von meiner Mutter. Aber um das laut auszusprechen, dafür kannte ich Hargrove nicht gut genug.
    »Du bist ein guter Zeichner«, sagte ich stattdessen. »Du solltest damit weitermachen.«
    Zum ersten Mal sah er mich an.
    »Magst du reinkommen?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ist es okay, wenn ich mich noch ein bisschen hier draußen umsehe?«
    »Klar.«
    »Bis dann mal«, sagte er und winkte mir kurz zu, während er auf die Skulpturen zuging, die seitlich vom Haus standen.
    »Lass von dir hören«, rief ich ihm nach.
    Bald darauf brachen erst Ms Avery und Hargrove, dann auch die übrigen Gäste auf, und so waren nur noch Henry und ich,Fred, Maud, Franklin und Helen da. Wir saßen am Kamin und überlegten, wo Wil wohl stecken mochte. Ich holte die kleinen Schnitzerein aus meinem Zimmer, und wir reichten sie so behutsam weiter, als wären es irgendwelche religiösen Gegenstände. Alle staunten über Wils kunstvolle Arbeit, vor allem Henry. Er fand es großartig, dass es einen zweiten Künstler in der Familie gab, und fragte sich, ob Wil überhaupt eine Ahnung habe, wie gut seine Sachen seien, viel besser als alles, was er selbst in Wils Alter gemacht habe. Maud wurde nachdenklich und meinte, Wil erinnere sie an Owen, meinen Vater. Sie sei sich nicht mehr so sicher, ob sie ihm gegenüber richtig gehandelt habe, als sie ihn damals weggab.
    Eine Weile hörte ich zu, während die anderen redeten, aber ich fühlte mich weit, weit weg. Ich trauerte genauso um Wil wie um Bessie, vielleicht sogar mehr um ihn. Wil war zwar nicht tot, trotzdem fühlte ich mich um ihn betrogen.
    Ich versuchte mir einzureden, dass er nicht für immer fort war. Ich wusste ja, wie viel die nördlichen Wälder ihm bedeuteten. Seit dem Morgen, an dem Wil verschwunden war, war ich so oft wie möglich morgens zur Hütte gegangen. So sicher war ich mir gewesen, dass dort eine neue Schnitzerei auf mich warten würde, dass ich warme Asche im Kamin finden würde und Anzeichen dafür, dass jemand in dem Bett geschlafen hatte oder überhaupt in der Nähe war. Doch nie entdeckte ich etwas. Manchmal blitzte zwischen den Bäumen etwas Weißes auf, dann glaubte ich, ich hätte ihn ganz kurz erspäht, aber es war nur ein Spiel des Lichts, und schon im nächsten Moment wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte.
    Ich fragte mich, ob Wil wohl den Rest seines Lebens als Erntehelfer verbringen wollte. Ständig von einem Kaff zum anderen weiterziehen. Nie lesen und schreiben lernen. Nie erfahren, weroder was er war. Es sprach ja gar nichts dagegen, dass jemand Sojabohnen oder Erdbeeren pflückte, trotzdem fragte ich mich, was er wohl aus seinem Leben machen würde, wenn er die Gelegenheit und das nötige Wissen hätte. Nichts zu wissen – für mich war das der schlimmste Verlust überhaupt.
    Ich muss wohl müde gewesen sein, denn nach diesem Gedanken bin ich einfach eingeschlafen. Eben saß ich doch noch mit den anderen am Kamin, und im nächsten Moment wachte ich auf, den Kopf in Henrys Schoß, und sah, dass er auf meinen Gips zeichnete, ein Bild von Herrn Kommkomm.
    »Sind alle weg?«, fragte ich.
    Henry nickte. »Es hat kräftig geschneit. Jetzt sind nur noch wir drei da«, sagte er und wies mit dem Kopf ans Ende des Kaminvorlegers, wo Herr Kommkomm tief und fest schlief.
    »Hey, mein Kleiner«, sagte ich, und er wedelte einmal mit dem Schwanz.
    Und auf einmal traf es mich wie ein Schlag. Vermutlich war Henrys Zeichnung von Herrn K. der Auslöser. Ich sprang wie

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