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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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versehen, den unverwüstlichen Kindheitsklassikern und den modernen Abstrusitäten mit aberwitzig komplizierten Voraussetzungen und verrückten Regeln. Alle ein, zwei Wochen ließen sie Schlagsahnedosen zwischen sich hin und her gehen und völlten, bis sie spürten, wie ihre Gehirnzellen wie Seifenblasen platzten.
    Sie versteckten Notfallrucksäcke an beiden Enden der Stadt, für ihn und für sie. Sie waren nicht so verblendet.
    Als die Schneefälle nachließen, stellte sich heraus, dass die Main Street aus irgendeinem Grund so etwas wie ein Highway der Toten war. »Hat wahrscheinlich damit zu tun, wie die Straßen hier angelegt sind«, sagte Mim, aber es sorgte für viel Verkehr. Sie hausten in dem Reliquiar im ersten Stock, wo sie bei Tageslicht die Rouleaus offen lassen konnten, ohne Angst haben zu müssen. Am Ende der Wendeltreppe stellte der Ladenbesitzer, Manny (der »gute alte«, wie sie ihn schließlich nannten), seine wertvollen Waren zur Schau: die Mängelexemplare mit Sammlerwert, limitierten Auflagen, nur im Flüsterton erwähnten Seltenheiten. Jeder nach dem Ersten Weltkrieg Geborene wäre angesprochen worden von der heimlichen oder gar nicht so heimlichen Nostalgie in dieser Fundgrube voller Stoffpuppen aus der Zeit der Wirtschaftskrise, Strahlengewehre und maßstabgetreuen Kampfflugzeuge aus dem Atomzeitalter, komplizierten Militärspielsets von wunderlicher Gewalttätigkeit und Actionfiguren von kurzlebigen Charakteren, die ausdrücklich nur zum Zweck der Actionfigurenproduktion in die jeweilige Folge eingebaut worden waren. In der Originalverpackung oder einem gekonnten Faksimile, in verschlossenen Vitrinen.
    »Das Zeug ist richtig wertvoll«, sagte er. Seine kindliche Erregung flackerte auf.
    »Wo denn? Für wen? Wozu? Das gehört zur alten Welt.«
    Sie hatte recht, aber er hatte gehofft, sie würde mitspielen, und sei es nur für einen Augenblick. Der Junge, der den Keller seiner Persönlichkeit durchstreifte, nährte noch immer das naive Verlangen nach einem Leben voller Abenteuer. Als Kind hatte er Szenarien für das Erwachsenenalter erfunden: einem Feuerball davonlaufen, auf einem Drahtseil über den Luftschacht balancieren, mit der Zauberklinge, die nur er führen konnte, die Armee der Unholde zerstückeln. Nun war er erwachsen, die Seuche hatte ihm seinen Wunsch erfüllt und zur albernen Groteske gemacht. Es war wenig glanzvoll, sich zwei Tage vor Schmerzen zu krümmen und sich die Eingeweide aus dem Leib zu scheißen, weil man es riskiert hatte, aus der Kiwisaftflasche mit dem abgelaufenen Haltbarkeitsdatum zu trinken. Alle anderen Kinder erwiesen sich als Postarbeiter, Dachdecker, beliebte Lehrer und starben. Mark Spitz lebte den Traum! Verbeuge dich, Mark Spitz.
    Der Schlüssel zur Vitrine befand sich vermutlich irgendwo unten, aber er ließ die Schätze in Ruhe. Frühere Generationen hatten sich auf ihre verlorenen Spielzeuge fixiert, hatten sich noch tiefer, als sie es ohnehin schon waren, in Schulden gestürzt, um sich diese Symbole zu beschaffen, weil die Phantasien sie stützten, die Geschichten von den handscheuen Waisen, die hinter das Geheimnis des ihnen vorenthaltenen Geburtsrechts kommen und das Königreich oder das Planetensystem retten, das Subgenre der verkannten Außerirdischen und mechanischen Menschen, die sich nach Liebe sehnen. Er hatte sich immer in ihnen wiedererkannt, in den Robotern, die auf der Suche nach dem Gefühlschip die Galaxie durchstreifen, den Tentakelwesen, die unter ihrer scheckigen, höckerigen Membran menschlicher sind als die mörderischen Dorfbewohner, die sie wegen ihres anderen Aussehens jagen.
    Die eigentlichen Monster waren natürlich die Städter. Aufgabe der Seuche war es, Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn als die Kreaturen zu entlarven, die sie schon immer gewesen waren. Und als was hatte die Seuche ihn bloßgestellt? Mark Spitz blieb bestehen, während die Menschheit einer nach dem anderen ausgelöscht wurde. Ein Teil von ihm blühte am Ende der Welt auf. Wie anders war es zu erklären: Er hatte ein Talent für die Apokalypse. Die Seuche ließ keinen unberührt, mit oder ohne Blutkontakt. Die heimlichen Mörder, schlafenden Vergewaltiger und latenten Faschisten konnten ihr skrupelloses Wesen nun ungehemmt ausleben. Die von Geburt an Schüchternen, diejenigen, die mit ihren Träumen für sich selbst geknausert hatten, diejenigen, die schon verängstigt aus dem Mutterleib gekommen und es geblieben waren: Auch sie fanden ein Endstadium für

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