Zone One: Roman (German Edition)
gehabt, seine Freundinnen irgendwann in etwas zu verwandeln, das weniger als menschlich war. Früher oder später kam stets der Punkt, an dem sie eine Linie überschritten und zu Kreaturen wurden: nach einem tränenreichen Auftritt in der Warteschlange zur Avantgarde-Vorstellung; mitten in einem stummen Vorwurf, wenn er es an Begeisterung für die Teilnahme an der Hochzeit ihrer Freundin fehlen ließ. Einmal war es nur ein bestimmter Gesichtsausdruck, ein kurzes Aufscheinen von Angst in ihren Augen, in dem er einen nicht zu behebenden Makel oder künftigen Betrug sah. Und von einer Sekunde auf die andere war der Mensch, in den er sich verliebt hatte, verschwunden. An seine Stelle war diese vertraute Abscheulichkeit getreten, dieses Ding, das dasselbe Gesicht, dieselbe Stimme, dieselben vertrauten Manierismen aufwies, die ihn einmal getröstet hatten. Für jeden anderen war die Simulation vollkommen. Wenn er, wie der Protagonist in seinen Horrorfilmen, seine Sache begründen wollte, zeigte die Welt Nachsicht mit seiner Theorie, beteiligte sich sogar an einer vernünftig klingenden Überprüfung, einer, die es nicht schaffen würde, sie zu überzeugen. Aber er selbst wusste immer Bescheid. Er wusste, wo sie in ihrer Menschlichkeit versagten. Er trennte sich.
Mit der Zeit lernte er diese letzten Nächte genau zu bestimmen und zu sagen: Da haben sie die Barriere durchbrochen. Mitten in der Auseinandersetzung über die Bedeutung des ausländischen Films, den sie sich als Teilnehmer eines anspruchsvollen Seminars gezwungenermaßen angesehen hatten: da. Als ihnen unterwegs ins Wochenende in der Hütte eines Freundes das Benzin ausging und sie eine halbe Stunde lang unter dem düsteren Mond im Wagen saßen: genau da. Als die letzten Nächte bestimmbar wurden, verkürzte sich die Zeitspanne zwischen dem auslösenden Vorfall und der Trennung. Appelle ließ er nicht zu. Sie konnten ihn auf keine Weise überzeugen, dass sie Menschen waren. Er war gerade dabei, eine Leiche aus einem Waschsalon in der Chambers Street unten in der Zone zu zerren, als ihm aufging, dass die Stimme, die ihn ermahnte, die Überlebenden, mit denen er sich zusammengetan hatte, in den Wind zu schießen, ein Nachhall seiner beziehungsabwürgenden Stimme war. Sie sind verloren, sie sind tot, es wird Zeit, sich zu trennen.
Mim veränderte sich nicht. Weder wuchsen ihr Hörner auf dem Kopf, noch spross ihr ein verfilzter Pelz auf dem Hinterteil. Vielleicht wäre ihr das irgendwann passiert. In dem Spielzeugladen waren sie in Sicherheit. Er gewährte ihnen Asyl. Wenn man die Mondlandschaft außerhalb des Ladens so sah, befanden sie sich ja vielleicht gar nicht auf der Erde und unterlagen einer anderen Art von Schwerkraft, neuen Regeln. Im Schnee waren keine Toten unterwegs; Mim vermutete, dass sie sich in Kellern verkrochen, in den verlassenen Sporthallen heruntergekommener High Schools, in Höhlen und Kanalisationsröhren und wo immer diese Monster sonst überwinterten. Andere Überlebende kamen nicht vorbei; auch sie hatten sich verkrochen, rieben sich langsam die Hände über den Büchern, die sie verbrannten, um sich zu wärmen, den Romanen, die sich den Codes der toten Welt widmeten, den Historien und Gedichten, die so leicht in Flammen aufgingen. Vielleicht waren er und Mim die letzten, die noch übrig waren. Eine ganze Gesellschaft in einem Spielzeugladen in der Main Street.
In einer Reihe von Ausfällen statteten sie sich ihre Bude aus, als wäre es ihre erste, alles aus zweiter Hand oder zu unschlagbaren Preisen – d. h. gratis. Sie suchten sämtliche Läden am Ort auf, entschieden sich gemeinsam für Gegenstände, stritten und fügten sich großherzig, was deren Plazierung anging: Bücher; Batterien; Milchkästen als Beistelltischchen; natriumarme Nudeln; ein leichtgewichtiger tragbarer Ofen; diverse Eimer und Plastikbehälter voll geschmolzenem Schnee und gereinigtem Wasser; die nach Ysop und Sandelholz duftenden Aromatherapie-Kerzen; Lampen mit verstellbaren Armen, deren Lichtkegel sich, falls nötig, auf die Größe eines Sechs-Punkt-Buchstabens verkleinern ließen; eine Luftmatratze mit mehreren Komforteinstellungen und Wärmemassage; Plastikschachteln mit antibakteriellen Feuchttüchern, die sie nach künstlichen Zitronen riechen ließen und ihrer Haut, wenn sie von den Lippen oder der Zunge des anderen berührt wurde, einen metallischen Geschmack verliehen. Sie lasen und spielten Spiele. Natürlich war der Laden reichlich mit Brettspielen
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