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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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hatten. Worin sie gestorben waren. Alles Elend der Welt wurde durch diese Betonschlucht geleitet, der Jammer, in den die Menschheit Person um Person verwandelt wurde. Jede Rasse, Hautfarbe und Religion war in dieser Zusammenkunft vertreten, die sich die Straße entlangquetschte. So wie es schon vorher kraft des Mythos dieser Schmelztiegel-Stadt gewesen war. Die Geschichte eines Menschen, das spezielle Narrativ seiner Neuerfindung war der Stadt egal; sie nahm sie alle auf, jeden Einwanderer in seinen Bestrebungen, ungeachtet seiner Herkunft, seines Heimatlandes, der Anzahl von Münzen in seiner Tasche. Ebenso wenig diskriminierte diese Seuche; das Blut eines Menschen fiel sofort, oder es hielt länger aus, aber am Ende versagte es immer.
    Sie waren alt und jung, Eingeborene und Neuankömmlinge gewesen. Ganz gleich, welche Hautfarbe, dunkel oder hell, sie gehabt, ganz gleich, welche Namen ihre Götter getragen oder was sie an deren Stelle gutgeheißen hatten, sie alle hatten sich auf ihre kleine, menschliche Weise gemüht, hatten gekämpft und geliebt. Jetzt waren sie hauptsächlich Münder und Finger, Finger, um Eingeweide aus weichen Leibeshöhlen herauszuziehen, und Münder, um die menschlichen Gesichter, die sie zu fassen bekamen, zu zerreißen und zu verschlingen, damit diese Gesichter weniger unterscheidbare, entindividualisierte Lappen von zerbissenem Fleisch wurden, anonym gemacht wie sie, die Toten. Ihre Münder brachten keine Sprache mehr hervor, aber sie sprachen gleichwohl, sagten, was die Stadt schon immer zu ihren Bürgern gesagt hatte, von den ersten Siedlern vor hundert Jahren bis hin zu den verstreuten Überlebenden der Garnison. Was die Seuche schon immer zu ihren Wirten gesagt hatte, vom ersten Menschen, in dessen Blut sie eingedrungen war, bis zum letzten Opfer draußen im Ödland: Ich werde dich auffressen.
    Mark Spitz’ Vorstellung davon, was jenseits der Zone lag, das von dem unaufhörlichen Gewehrfeuer heraufbeschworene Bild, wurde von dem Schauspiel vor ihm in den Schatten gestellt. Die Mauer hatte diese Realität von ihm ferngehalten. Sie würde nicht halten, das war offensichtlich. Er musste zurück zu Kaitlyn und Gary, und sie mussten einen Plan machen. Auf der anderen Seite der Mauer liefen die Toten in gewaltigen Haufen aus, die zwischen der Barriere und den Gebäuden auf der Nordseite der Canal Street immerzu anstiegen. Auch wenn die Kräne funktioniert hätten, damit hätten sie unmöglich Schritt halten können. Die Toten kletterten auf den Körpern der Gefallenen nach oben, wurden von der Artillerie zerrissen, ließen den Haufen anwachsen, die nächste Welle trampelte über sie hinweg und wurde ihrerseits niedergemäht. Die Leichen verflochten und verwickelten sich zu einem verstümmelten Haufen, der bereits halb so hoch war wie die Mauer, und aus ihren Wunden spritzten und gurgelten dunkle Flüssigkeiten zwischen den Nahtstellen im Beton hindurch, wo die breiten Segmente aufeinandertrafen, denn das Gewicht der Leichen presste den inneren Modder aus den Kadavern, als wären sie überreife Früchte. Inzwischen war die Barriere ein Damm, der sich der Sturzflut des Ödlandes entgegenstemmte. Sie würde nicht halten.
    Er sah die Schwachstelle, wo sie zerbrechen würde. Die Marines hatten die T-Segmente aus Beton mitten auf die Canal manövriert und sie, sobald die Zone stabilisiert war, mit imposanten Stahlklammern, sechzig Zentimeter breit und fünf Zentimeter dick, gesichert. Das Metallgerüst der Laufgangskonstruktion sorgte auf der Zonenseite für zusätzliche Stabilität gegen die bösartigen Kräfte von uptown. Aber inzwischen sah Mark Spitz die Ritze durch Ödland-Augen: die Klammern waren so dürftig wie auf einen Fensterrahmen genagelte Sperrholzplatten, jenes Urbild der Barrikade. Dort splitterte jede Befestigung: wo der Nagel das Holz durchbohrte, der Bolzen in den Beton eindrang. Das Gebet auf die Wahrheit traf. Für die Toten gab es immer eine Stelle, wo sie Halt fanden.
    In dieser Nacht war es keine verunstaltete Skeletthand, die das Brett wegriss, sondern die heillose Masse all der mobilisierten Qual, von der der Broadway überquoll. Man hörte eine wütende Salve Maschinengewehrfeuer, und weitere Tote fielen auf den Fleischhaufen. Die Klammer an der Westkante des T-Segments, das quer auf dem berühmten Boulevard stand, löste sich, und sein Gegenstück, das es mit dem nächsten Segment in östlicher Richtung verband, schnellte aus der Verankerung. Es flog über die

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