Zone One: Roman (German Edition)
bedenken, dass der menschliche Körper nach Perioden längerer Anstrengung Zucker brauche, und bekam eine Abfuhr. Kaitlyn zückte ihr Heft. »Mark Spitz?«
Er ging nach dem Ausweis der Kreatur suchen. Die allgemeine Theorie besagte, dass Irrläufer das aufsuchten, was sie kannten. Das Wo war offensichtlich: Man stand darin. Doch das Warum lag immer woanders. Dieses Skel, einst eine Frau, hatten sie bei der Reihe von Heliumbehältern entdeckt, die Hand schlaff an einem Ventil. Sie trug ein Gorillakostüm. Wegen ihres geschrumpften Körpers eingefallen, warf es Falten um ihre Schultern. Den Kopf trug sie nicht; er war nirgends zu sehen.
Mark war erschöpft – sie hatten zwei Hochhäuser mit Wohnungen hintereinander durchkämmt und eine Menge toter Haustiere hinunterschleppen müssen –, aber er konnte trotzdem nicht umhin, ein bisschen Detektiv zu spielen. Was hatte dieses Exemplar in diesem Laden und speziell an dieser Stelle verloren? An der Wand hinter der Kasse, neben den am ersten Geschäftstag als Glücksbringer angeklebten Dollarscheinen, hing das Foto eines stämmigen Mannes, umringt von lächelnden Kindern, die nach der Bonbontüte grabschten, die er knapp außerhalb ihrer Reichweite hielt. Der Besitzer, vermutlich. Mark Spitz erkannte keinerlei Familienähnlichkeit, bevor er das Gesicht des Irrläufers auslöschte. War sie die Ehefrau, eine Angestellte oder ehemalige Angestellte, und wenn ja, was an diesem Ort drängte sich dann trotz der Seuche in ihr Wesen und rief sie hierher? Dann war da das Kostüm. War sie infiziert worden, während sie die Gorillakluft trug, oder hatte sie sie angezogen, während sie immer kranker wurde, und wenn das der Fall war, was hatte sie dann veranlasst, sie sich als Leichentuch auszusuchen? Vor der Seuche hätte der Anblick von jemandem, der in diesem Kostüm auf der Straße unterwegs war, nicht einmal für hochgezogene Augenbrauen gesorgt – Manhattan war schließlich Manhattan –, und danach trug er nur geringfügig zum vorherrschenden Eindruck des Makabren bei. Wieso ihr Posten am Heliumbehälter und die Pfote am Ventil, die das Rätsel noch verkomplizierte? Als Mark Spitz sie in den Kopf schoss, riss sie den Behälter mit sich zu Boden. Der Gong, mit dem das Ding auf dem Boden aufschlug, war das lauteste Geräusch, das sie in dieser stummen Stadt seit Wochen gehört hatten. Sie fuhren zusammen.
Mark Spitz öffnete den Reißverschluss des Kostüms, um nach einer Brieftasche zu suchen. Das Skel war nackt, der Körper mit braunen Seuchenmalen gesprenkelt. Am Unterarm fehlte ein apfelgroßer Brocken Fleisch. Vielleicht war die Erklärung für ihr Kostüm, und wie sie es bis zu dieser Stelle geschafft hatte, im Kontext ihres früheren Lebens plausibel. Aber es gab niemanden, der ihre Geschichte erzählen konnte. Mark Spitz’ Kugel hatte alles oberhalb ihres Halses in kleine Tröpfchen giftiger Flüssigkeit, Knorpel und Knochensplitter verwandelt.
Kaitlyn schlug ihm vor, hinten nach einem Ausweis zu suchen. Er ging in die hinteren Winkel des Ladens. Hierher drang kein Licht von der Straße. Er schaltete seine Taschenlampe ein. Das Büro entsprach dem vertrauten Durcheinander kleiner Innenstadt-Geschäfte. Der Besitzer hatte Rechnungen, überzählige Lagerbestände und Jahrzehnte von Steuererklärungen zu einer Festung von Müll getürmt, die sie womöglich vor dem Aussterben bewahrte. Der Strahl von Mark Spitz’ Helmlampe strich über die Aktenschränke und Kartons mit Saisonware, die innig geliebten Plastik-Ostereier und Jack-o’-Lantern-Wimpel. Er fand weder ihre Kleider noch sonstige Hinweise, und im nächsten Moment weinte er, die Finger auf seinem Gesicht wie eine Meeresschnecke gekrümmt, während ihm süßlich Rotz in den Mund sickerte.
Als sie das nächste Mal einen Ereignisbericht verfassen mussten, lehnte er ab, und irgendwann kriegte Kaitlyn es mit und entband ihn von der Aufgabe. Er hatte einen Nervenschaden: Input drang nicht zu ihm durch. Die Welt kam an seinen Rändern zum Erliegen. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu sprechen, suchte nach Worten, und es kam ihm so vor, als trennte ihn eine unsichtbare Schicht vom Rest der Welt, eine Membran emotionaler Oberflächenspannung. In dieser Hinsicht war er nicht allein. »Überlebende können neue Bindungen nur langsam oder gar nicht eingehen«, dröhnten die neuesten Diagnosen, obwohl ein Zyniker das vielleicht als Kennzeichen des modernen Lebens schlechthin bestimmen würde, das sich
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