Zone One: Roman (German Edition)
Stümpfe der Docks von Jersey gestarrt. Überreste einer Ära von Seefahrt und Handel. Was für eine Aussicht. Wenn man es bis an die Ränder der Insel und zu den Palisaden schaffte, schoben sich vor einem Brooklyn und die Freiheitsstatue in ihrer Stille ins Bild. (Gebt mir eure armen, eure hungrigen, eure schwärenden Massen, die zu essen begehren.) Wieviel Prozent der Bewohner hatten nicht irgendwann einmal mit den Lippen die Silben eines verzückten, ehrfürchtigen »Was für eine Aussicht« geformt? Wie konnten es weniger als hundert Prozent sein. Es war eine Banalität, der sich niemand entziehen konnte. Wieviel Prozent der Bewohner hatte nicht der Stolz gepackt, wenn sie zwischen kleiner Küche und Wohnzimmer hin- und herflitzten, um noch Hors d’oeuvres zu holen, und ihre Gäste »Was für eine Aussicht« flüsterten? Hundert Prozent. Die Bürger waren von der ausblicklosen Stadt darauf programmiert, dergleichen bei den entsprechenden Auslösern zu äußern, so sehr hatten verkrüppelte Horizonte sie reduziert.
Nach vier Treppen hatte Mark Spitz die Pläne der Anlage intus, das Wissen eines Hausmeisters von den identischen Grundrissen der Wohnungen des jeweiligen Typs. Fensterloses Arbeitskabuff oder Kinderzimmer, rechts das Badezimmer, am Ende des Flurs ein zweites Schlafzimmer mit sarggroßem Wandschrank. Er erkannte die Vorleger, Wandleuchter und Beistelltische, denn die Bewohner hatten alle im selben beliebten Möbelzentrum eingekauft wie der Rest des Landes. Sie waren durch die gleichen Ausstellungsräume geschlurft und hatten mit dem Hintern die gleichen Sofas getestet, hatten sich, so das Breitbandkabel wollte, durch die Dropdown-Menüs der gleichen Online-Lieferanten geklickt, den »Blick in ein Zimmer« herangezoomt und im Geist den gleichen Grundrissen entsprechend die Ware angeordnet. In der Typ-D-Wohnung im fünften Stock entdeckte er das karierte Sitzkissen, auf das er dann auch in der Typ-A-Wohnung im dreizehnten Stock stieß, und zwar in gleicher Distanz zum Flachbildfernseher. Sie waren eine Gemeinschaft gewesen.
Das Einzige, was sich wirklich änderte, war der Blick auf Jersey, der an Weite einbüßte, während sich Mark Spitz’ Einheit die Treppen vom Penthouse-Olymp zur Wurmperspektive hinunterbewegte. Die Leichen aus den großen Gebäuden am Battery Park entsorgte Omega auf die gleiche Weise wie sonst auch. Die schöne Aussicht beeinflusste den Quadratmeterpreis, nicht ihren Job. Im schwarzen Polyurethan waren die Leichen gleichermaßen unansehnlich, ob man sie nun aus Zimmern mit Blick auf Steilufer, Luftschächte oder kostspieligere Wohnungen auf der anderen Straßenseite barg. Am anderen Ufer des Hudson River stand kläglich das alte Pfahlwerk heraus, verfaulte Zähne in einem monströsen Rachen. Widerliches graues Wasser umschwappte es wie Speichel. Überall Zähne. Wenn man es übers Wasser schaffte, dachte Mark Spitz, würde man aufgefressen werden.
Er zog den Reißverschluss über dem Marge zu und beeilte sich, als er bei dem blutigen Wust auf ihrer Kopfhaut anlangte. War dieses Skel eine gebürtige New Yorkerin, oder hatte das heitere Treiben von Margaret Halstead und ihren schillernden Mitbewohnern sie hierher gelockt? War sie eine jener Suchenden, die dem Reiz der unmöglichen Wohnung erlag, welche sich die drei von ihren beschissenen Gehältern unerklärlicherweise leisten konnten, außerstande, den mit dem Skalpell geschnitzten und gründlich abgeschliffenen Gesichtern der Gaststars zu widerstehen, mit denen die Figuren in Kurzauftritten oder über mehrere Folgen hinweg knutschten? Sprachlos vor Begeisterung über die umwerfenden Archivaufnahmen der Straßen der Stadt im Abendgewimmel. Funktionierte es, die Frisur, die gebleichten Zähne, die kalkulierten Injektionen, verwandelten sie das Landei in die Großstädterin? Modellierte ihr Gesicht zur vorherrschenden Grimasse? Um die Stadt am Laufen zu halten, brauchte es Menschen. Wenn Bürger fliehen oder sterben, müssen andere sie ersetzen. Mit der Ausdehnung ihrer Pracht, ob nach außen über Aufschüttungen oder nach oben in ihren mannigfaltigen, hoch aufragenden Waben, brauchte die Stadt Leute, um die Leerstände zu füllen. Wenn die Sweeper ihren Auftrag beendet hatten, wer würden dann die neuen Bewohner der Insel sein, die, den Bauch an die Bootsreling gedrückt, ebenso erwartungsvoll glotzen würden wie jene anderen Einwanderer, die im Hafen angekommen waren, die erste Fuhre? Wohin waren all die früheren Mieter
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