Zone One: Roman (German Edition)
verringern, aufgerufen zu werden: inmitten einer hohen Konzentration schlauer Kids und eingefleischter Handhochheber, aber in einem ganz bestimmten, ausgeklügelten Winkel zum Blickfeld der Lehrerin, der es ihm erlaubte, ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen oder sie auf sich zu ziehen. Ebenso wusste er ganz genau, wie spät er zur Arbeit erscheinen konnte, ohne dass das zum »Problem« wurde, wie oft er sich das leisten konnte und wie beschäftigt er zu unterschiedlichen Tageszeiten wirken musste, je nachdem, wann sein Chef die Bürokabuffs nach Bummelanten durchkämmte. Er hatte immer gewusst, wann er »Ich liebe dich« sagen musste, um seine jeweilige Freundin cool und bei Laune zu halten, wie sehr er einen Termin überschreiten durfte, ohne dass es Weiterungen gab, wie er die Vertreter des Dienstleistungsgewerbes anlächeln musste, um einen anständigen Tisch oder eine Extraportion Creme zu bekommen. In seinen Augen ging es im Leben darum, Konsequenzen zu minimieren. Die Seuche hatte den Einsatz erhöht, aber er war schon sein Leben lang in der Ausbildung.
Gary sagte: »Dä ha-mä in pahs. Dä ha-mä in pahs.«
Manchmal hauste er, wenn das Wetter mitspielte (diese wunderliche Picknick-Sprache), monatelang auf Bäumen, denn er hasste das Übernachten in leeren Häusern, weil er wusste, dass deren Bewohner höchstwahrscheinlich in irgendeiner Form tot waren. Vielleicht lag hier der Ursprung seiner Aversion gegen das Ermitteln der Identität: die vielen Male, die er eine Kommode vor eine Schlafzimmertür geschoben und zugesehen hatte, wie der Kram, der darauf lag, auf den Boden fiel, Schachteln mit billigem Schmuck, Kölnischwasser im türkisfarbenen Fläschchen, die Familienfotos in den zerbrechlichen Plastikrahmen. Noch schlimmer war es, wenn er auf einen Irrläufer stieß, obwohl er das Wort damals noch nicht kannte. Eine Frau im Bademantel löffelte Kaffee in die schwedische Maschine und war an Ort und Stelle erstarrt. Ein Teenager schwenkte in seiner muffigen Bude einen Lacrosse-Schläger, und in der nächsten Stadt ordnete die kleine Prinzessin mit dem Pferdeschwanz zerkaute Einhörner auf dem Pappbrett eines alten Spiels an, das es nie in den regulären Turnus ihrer Familie geschafft hatte, ein Modespiel mit zu ausführlicher oder zu spärlicher Anleitung. Natürlich schlug er ihnen mit einem Baseballschläger den Schädel ein; er hatte rasch spitzgekriegt, dass sie harmlos waren, wusste damals aber nicht, ob sie nicht plötzlich auf irgendeinen inneren Kuckucksruf hin aufwachen und die Verfolgung aufnehmen würden. Die Seuche weihte einen nicht in ihre Regeln ein; sie standen nicht auf der Innenseite der Schachtel. Man musste sie eine nach der anderen lernen. Die Mehrzahl der Skels war tollwütig, und dann gab es noch diese Unterart. Die Widerwärtigkeit war noch nicht so weit gediehen, dass sie begannen, zu verkümmern und sich den Namen Skelett zu verdienen. Was es nur noch schlimmer machte. Im Halblicht, bevor er ihre Wunden sehen konnte, war er ein harmloser Fassadenkletterer, der zufällig ins falsche Haus, nämlich das neben seinem eigentlichen Ziel, eingebrochen war. Die Bewohner waren zu Hause. Er wollte sich entschuldigen und tat es sogar ein paarmal. Sie reagierten nicht. Sie sahen aus wie ganz normale Menschen, bis er die fehlenden Körperteile oder die improvisierten, nässenden Verbände sah. Friedhofsstatuen, weinende Engel und schmuddelige Putten, die über ihren eigenen Gräbern standen. Halt dich lieber an die Bäume, sagte er sich.
Gary sagte: »Kuahn-to kwesta? Kuahn-to kwesta? Kuahn-to, kuahn-to.«
Er lernte, sich still zu verhalten, in einen Schlaf hinüberzugleiten, der so leicht war, dass er Gefahr immer noch wahrnehmen und auf sie reagieren konnte, und er trainierte eine schnelle Dschungel-Kombi aus Herabschwingen, Landen und Losrennen, falls einer oder mehrere von ihnen aufblickten und ihn sahen, was nie passierte. Sie kamen nie, wenn man wachsam war; sie kamen, wenn man mit einem Fuß in der Vergangenheit stand und sich einer toten Vorstellung von Sicherheit erinnerte. Er sah es so: Wenn es einem bestimmt war, umzingelt zu werden, dann wurde man auch umzingelt – wenn das Glück gegen einen war, spielte es keine Rolle, ob man auf einer Eiche oder in einem Haus im Kolonialstil saß.
Als er zum ersten Mal mit einer anderen Überlebenden über seine Baum-Affinität gesprochen hatte, sagte sie: »Na und? Ab und zu schläft jeder auf Bäumen.« In der Misere hatten sie alle die gleichen
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