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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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verbreitetere Verkleinerungsform Phönie war in den Siedlungen entstanden, die ebenfalls einer kosmetischen Behandlung unterzogen wurden, während Camp 14 in New Vista umgetauft und Roanoke zu Bubbling Brooks wurde. Mark Spitz’ erstes ziviles Camp war Happy Acres, und tatsächlich hellte sich beim Anblick des Namens am Tor, neben dem Stacheldraht und dem Elektrozaun, jedermanns Stimmung ein wenig auf. Mark Spitz glaubte, dass auch das Merchandising viel dazu beitrug, die Kapuzenpullover und Sonnenvisiere und dergleichen. Die kalten Farben und spröden Linien des Logos entsprachen einem sehr populären Designtrend aus den Monaten vor der Letzten Nacht, und es war beinahe so, als setzte sich die Kultur dort fort, wo sie aufgehört hatte.
    Den einsamen Irrläufer von Duane Street 135 entdeckte Omega im dritten. Nach dem Besprechungszimmer war die Luft rein: keine Skels und, weil das hier kein Wohnhaus war, auch keine Haustiere, kein vereinzelter Bichon Frisé und kein hypoallergenes Kätzchen, das auf den abgetretenen, aquamarinblauen Fliesen im Korridor verweste. Der dritte Stock war in ein Labyrinth aus Ein- und Zweiraumbüros, die meisten fensterlos, aufgeteilt worden. Verzweifelte Unternehmen auf der Flucht vor Inkassobüros und Konkursrichtern, die mit dem Dahinwelken ihrer Aussichten in immer traurigere und schäbigere Büros absackten. Sie waren schon vor dem Ausbruch der Seuche halb untergegangen, und es war jener letzte schlimme Winter, der sie vom Antlitz der Erde tilgte.
    Der Irrläufer stand im Hinterzimmer eines leeren Büros. Nicht zu erkennen, was das einmal für ein Unternehmen gewesen war. Halb zerdrückte Kartons standen auf dem beigefarbenen Teppich neben zerknüllten Blättern, die mit den schwarzen Linien und Reihen des meistverkauften Tabellenkalkulationsprogramms bedeckt waren. Ein ramponiertes Telefon zog, auf halbem Weg nach draußen hängengeblieben, seine Nabelschnur nach. Der Kopierer beherrschte das Hinterzimmer, von Fingerabdrücken verschmutzte Knöpfe, die Papierschale herausgestreckt wie eine dicke, grüne Zunge. Die rechte Hand des Irrläufers hielt die Abdeckung hoch, und er war leicht vorgebeugt. Wie alle Irrläufer zuckte er bei ihrer Annäherung nicht zusammen. Er spähte in das von der Glasplatte geschützte Innere der Maschine, so still wie der Staub, die verbogenen Büroklammern, Kurierdienst-Verpackungen und diversen anderen Überbleibsel im Raum.
    »Ned der Kopierfuzzi hat seinen Job geliebt. Zu sehr geliebt«, sagte Mark Spitz.
    »Komm schon, das kannst du besser«, sagte Kaitlyn.
    Es war ein junger Mann, in seinen Kleidern geschrumpft wie alle Skels, aber seine rote Krawatte schnürte ihm den Kragen um den Hals zu. Er schien in die Achselhöhle gebissen worden zu sein; ein roter Blutkegel endete dort, der sich zur klumpigen Form eines Raketenheckstrahls verbreiterte.
    Gary überlegte und steuerte »Mehr Toner, aber pronto!« bei.
    Kaitlyn rasselte in rascher Folge herunter: »Mein Gott, da sind ja lauter Sterne drin.« Dann: »Wenn wir feststellen können, wessen Glutaeus maximus das ist, haben wir unseren Schuldigen.« Und schließlich: »Ich kann von hier aus sehen, wo ich wohne.«
    »Wer bin ich?«, das heitere Irrläufer-Raten unterbrach mit seinen mageren Belustigungen den Tag und brachte bei Kaitlyn eine humorvolle Ader zum Vorschein, einen flüchtigen Eindruck von dem Witz, den sie mit ihren Freunden, ihren Familienangehörigen und Mitgliedern ihrer liebsten sozialen Netzwerke geteilt hatte. Das Spiel diente auch noch einem anderen Zweck, insofern es den Sweepern die Herrschaft über einen kleinen Winkel der Katastrophe verlieh, des grausamen Rätsels, das ihr Leben dezimiert hatte. Wie war der Kopierfuzzi oder Kopierer-Reparateur oder Tonerfetischist hier oben gelandet? War er meilenweit gegangen, war er seit der Letzten Nacht hier? Hatte er schon vor sechs Inkarnationen in diesem Büro gearbeitet, als es noch das Büro eines Steuer- oder Ernährungsberaters gewesen war? Die schrecklichste Aussage lautete, dass er nichts mit diesem Ort zu tun hatte, dass es sich bei diesem Büro im dritten Stock schlicht und einfach um den Ort handelte, wo er zusammengebrochen war. Wenn seine Anwesenheit hier beliebig war, warum sollte es dann nicht eine ganze, von Beliebigkeit beherrschte Welt geben, mit allem, was daraus folgte? Irrläufer-Raten knabberte ein Stückchen von dem Chaos ab, zu dem die Welt geworden war.
    Es war jedenfalls weniger öde als Blutfleck-Raten, ein anderer

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