Zone One: Roman (German Edition)
Zeitvertreib. Was siehst du? – jenes auf Abwege geratene Kinderspiel mit Wolken: Mount Rushmore, Texas, ein Spaceshuttle, ein Traumhaus, das Grab meiner Mutter. Wie alle Sweeper rissen sie Witze über die Kreaturen, die sie vor sich hatten, versuchten die klügsten Hypothesen darüber aufzustellen, wie die Pfadfinderin im Boxring gelandet war oder wieso der Typ in der Busfahreruniform sich im Eisladen über die Tiefkühltruhe beugte, um getrocknete Schlammkuchen herauszuholen. Die Antworten beim »Wer bin ich?« waren logisch, phantasievoll oder absurd (»Bekloppt!«, rief Kaitlyn einmal), je nach dem Tenor des Tages.
Ein weiteres beliebtes Vergnügen war, allerdings nicht in Kaitlyns Schicht, die Skel-Verstümmelung – nicht, dass Mark Spitz entsprechende Neigungen gehabt hätte. Er nahm an, dass Gary diesem Zeitvertreib im grässlichen Connecticut gefrönt hatte, wo er eine regionale Sitte war. »Wir amüsieren uns bloß«, hieß die einschlägige Ausrede bei den seltenen Gelegenheiten, wo man danach gefragt wurde. Ein neutralisiertes Skel war die ideale Spielwiese für den eigenen Sadismus, ob man nun ein Dilettant war und sich lediglich Zeit damit ließ, dem Ding vor einem ein Ende zu machen, hier einen Finger und da ein Ohr abschnitt, oder ein auf Meisterniveau Praktizierender, der die ganze Nacht aufblieb und sich neuartige Varianten ausdachte.
Die Irrläufer posierten für ein Bild und rührten sich nie wieder, in einem Schnappschuss ihres Lebens gefangen. In ihrer Paralyse forderten sie zu einer noch abstruseren Form von Übergriffen heraus. So konnte man ihnen etwa ein Hitlerbärtchen aufmalen, ihnen eine Sponsoren-Zigarette zwischen die Lippen stecken. Ihnen einen Hosenzieher verpassen. Sie zuckten nicht. Sie nahmen es hin. Und dann wurden sie deaktiviert – sie wurden geköpft oder bekamen das Gehirn herausgepustet. Obwohl das Thema in den PABS -Seminaren, die Herkimer mit den Seelenklempnern der Camps veranstaltete, nicht zur Sprache kam, ging man allgemein davon aus, dass dieses Verhalten ein gesundes Ventil war. Beschäftigungstherapie.
Mark Spitz hatte bei vielen Gelegenheiten festgestellt, dass die regulären Skels mit es bezeichnet wurden, während man den Irrläufern weibliche und männliche Pronomen zuerkannte, und er fragte sie, was das zu bedeuten hatte. »Wie heißt er?«, fragte er.
»Was meinst du damit, wie er heißt?«, sagte Gary.
»Irgendwie muss er doch heißen.«
»Buffalo braucht die Namen nicht.«
»Trotzdem.«
»Er heißt Ned der Kopierfuzzi.«
»Und wenn wir ihn einfach hierbleiben lassen?« Mark Spitz wusste nicht, warum er das sagte. »Er tut doch keinem was. Seht euch das Zimmer hier an. Wir stehen im deprimierendsten Zimmer der ganzen Stadt.«
Seine Kameraden sahen einander an, gingen aber nicht weiter darauf ein. »Erlösen wir den Kleinen von seinem Elend«, sagte Kaitlyn und schoss ihm in den Kopf.
Hätten sie Blutfleck-Raten gespielt, hätte Mark Spitz »Nordamerika« gesagt. In Zukunft würden sie jede Menge neue Fenster brauchen, dachte er. Und massenhaft Bleichmittel. Das wären blühende, zukunftsträchtige Geschäftszweige. Vielleicht sollte Gary sein Lasso an den Nagel hängen und sich auf die Blutwegschrubbbranche verlegen. Gleich zu Anfang einsteigen. Die Flecken wegmachen.
Der Kopierfuzzi war der letzte Irrläufer im Gebäude. Kaitlyn vermerkte die Einzelheiten in ihrem Notizbuch. Sie schleiften die Leiche hinaus in die Dämmerung und machten Feierabend, während von fern die Glocke des Entsorgungsdiensts bimmelte. Mark Spitz hörte zu, wie sie verklang. Es war der Klang des Todesgottes aus einer der vergessenen Religionen, desjenigen, der es richtig machte, der den Heuchlern mit ihren Milliarden von gelackmeierten Gläubigen die Schau stahl. Jeder Gott, der jemals im Licht von Höhlenfeuern fabriziert worden war, um den Donner zu erklären oder die modischen Bittgebete in weit verstreuten Tempeln hervorzurufen, war der falsche. Er war nach so langer Zeit wiedergekehrt, machte stolzgeschwellt die Runde durch die Nekropole, denn sein Reich war endlich gekommen.
Seine Einheit hatte die letzten vier Nächte in einem ehemaligen Textillager geschlafen, das in spektakuläre Lofts umgebaut worden war, in die Steilwand der City eingeschnittene Alkoven voller Glamour. Die Wohnung, für die sie sich entschieden hatten, gehörte dem Drummer einer weniger bedeutenden Rockband, deren einer großer Erfolg eine kraftmeierische Hymne war, die Strophe für Strophe
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