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Zone One: Roman (German Edition)

Zone One: Roman (German Edition)

Titel: Zone One: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colson Whitehead
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hatte, war ihm rasch zuwider gewesen, und er hatte die dünne Brühe der »Silhouette« aus Verzweiflung über die nicht zustande gekommene Beziehung zusammengerührt. Im Kern waren Letzte-Nacht-Geschichten allesamt gleich: Sie sind gekommen, wir sind gestorben, ich bin losgerannt. »Die Silhouette« reichte aus. Nicht nötig, sein Herz auszuschütten, mit dem guten Zeug aufzuwarten. Die beiden waren auseinandergegangen, bevor sie auch nur richtig miteinander geredet hatten.
    »Die Anekdote«, die kernig war und mehr auf den Rippen hatte, bot er Menschen, mit denen er sich vielleicht eine Nacht lang versteckte, etwa in einem längst gesäuberten griechischen Restaurant in Familienbesitz, einem verfallenen Wohnwagen, auf dessen Teppichboden Unkraut wuchs, oder auf dem Dach einer Mautstelle, wo man zwar in der Sonne briet, aber dankbar für den Rundumblick war. »Die Anekdote« tischte er außerdem auf, wenn er sich größeren Scharen anschloss und »Die Silhouette« vielleicht unanständig wirkte, aber »Der Nachruf« war zu intim, als dass er ihn mit den um die Taschenlampen zusammengedrängten, unbestimmten Gesichtern teilen konnte. Zur »Anekdote« gehörte eine Glosse über Atlantic City und die Heimfahrt (rückblickend spektakulär unheilverkündend, die Geister, wie sie Basketball spielten), und sie schloss mit dem Satz: »Ich habe meine Eltern gefunden, und dann bin ich losgerannt.« Es war, wie er lernte, die kleinste, für Fremde noch akzeptable Portion, die ihnen erlaubte einzuschlafen, ohne zu fürchten, dass er sie in ihren Schlafsäcken totschlagen werde. Die Versionen, die sie ihrerseits erzählten, ließen ihn niemals schlafen, ganz gleich wie stark sie mit vielsagenden Details und Aufrichtigkeit angereichert waren.
    »Der Nachruf«, obwohl im Lauf der Monate verfeinert und etwas einstudiert wirkend, war gleichwohl tief empfunden, spiegelte an mehr als einer Stelle Mark Spitz’ wahres Selbst wider, war voller Abschweifungen über seine lebenslange Freundschaft mit Kyle, Sehnsucht nach den früheren Fahrten nach Atlantic City, der beunruhigenden und »schrägen« Atmosphäre jenes letzten Kasino-Wochenendes und einer ausführlichen Schilderung des Tableaus bei ihm zu Hause und dessen Folgen. Obwohl die Adjektive bei späteren Nacherzählungen in aller Regel neutral ausfielen, war »Der Nachruf« das Heilige in seinem aktuellen Gewand. Die Zuhörer reagierten meist in ähnlicher Weise, es sei denn, das Wiederaufsuchen jener längsten aller Nächte löste eine Fugue bei ihnen aus, was gelegentlich vorkam. Üblicherweise verbrachte man einige Zeit miteinander. Vielleicht war das ja das letzte menschliche Wesen, das man zu Gesicht bekam, bevor man starb. Sprecher wie Zuhörer, Mitteilender und Empfänger wollten in Erinnerung behalten werden. »Der Nachruf« hielt alles für einen ruhigen, fernen Tag fest, an dem man längst verschwunden sein und ein Fremder sich die Zeit nehmen würde, einen zu erwähnen.
    Hinter jeder Biegung tauchten natürlich auch Leute auf, die einem ein Klotz am Bein sein konnten, und zwei Minuten in ihrer Gesellschaft reichten. Sie waren schon zu weit hinüber. Krank, aber sie litten nicht an der Seuche, sondern an den prosaischen Krankheiten, die im Ödland zu neuen Komplikationen führten, Lungenentzündung und rheumatoide Arthritis und dergleichen. Die Sachen, für die man Generika brauchte, die in den geplünderten Apotheken dekodiert werden mussten. Oder sie waren ganz eindeutig wahnsinnig. Wie hatte es dieses hirntote Halb-Skel so weit geschafft? Gott hatte über Kinder und Betrunkene gewacht, und jetzt wachte er über niemanden mehr, aber diese Unglücklichen waren irgendwie durchgekommen. Sie hatten keinerlei Vorräte, keine einzige Waffe, besaßen nichts als ihre Kleider und Wunden. Vielleicht berappelten sie sich ja wieder, vielleicht brachte eine Hühnersuppe aus der Tüte den Husten zum Verschwinden, aber er trat rasch den Rückzug an, schneller, als wenn ihm hundert Skels auf den Fersen gewesen wären. Es war sicherer, davon auszugehen, dass sie ihn das Leben kosten würden. Auf dem Kamm der alten Landstraße könnte plötzlich eine Eltern-Kind-Kombi auftauchen, abgezehrt und erschöpft, und vor denen schreckte Mark Spitz jedes Mal zurück, ganz gleich wie gut sie ausgerüstet waren. Die Elternschaft machte Erwachsene unberechenbar. Im entscheidenden Moment zögerten sie aus Rücksicht auf die Fähigkeiten oder die Sicherheit ihres Kindes, sie litten unter dem Wahn,

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