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Zopfi, Emil

Zopfi, Emil

Titel: Zopfi, Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spitzeltango
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erinnern. Verkehrte Welt, hatte er oft gedacht im Dienst, ich sehe sie nur noch im Rückspiegel, wenn ich die Leute beim Ein-und Aussteigen beobachte. Ich sehe, wie sich die Menschen und die Zeiten ändern. Wie sie immer ungeduldiger, immer hektischer werden. Die Röcke kürzer, dann wieder länger, die Haare umgekehrt. Die Jungen frecher, die Gesellschaft farbiger, die Sprachen verworrener. Mobiltelefone tauchten auf, wurden immer kleiner, dann wieder grösser. Die Passagiere schwatzten unablässig, aber nicht mehr miteinander, sondern mit Irgendwem im Irgendwo. Zwanzig Jahre Tramfahren, das waren zwanzig Jahre Welttheater.
    Einer der Raucher trat seine Zigarette aus. «Tag Pippo.»
    Pippo deutete ein Nicken an, ging vorbei. Die Glastür unter dem steinernen Bogen des Portals stand offen. Der Bildschirm an der Wand der Eingangshalle neben dem Anschlagbrett war neu.
    14.00 Trauerfeier Kunz Blauer Saal.
    Er stieg die Wendeltreppe hinauf, zog sich am Geländer hoch. Sein Atem ging schwer. Früher, als er regelmässig hierherkam zu Vollversammlungen oder Gewerkschaftssitzungen, war ihm das Treppensteigen leicht gefallen. Der Geruch der Granitfliesen, von hunderttausend Schuhen abgewetzt, hatte sich nicht verändert.
    Die Erinnerung an eine letzte Niederlage schmerzte. Er hatte für die Fortsetzung des Streiks geredet. Gemeinsam sind wir stark, Genossen! Doch die Reformisten und Opportunisten hatten ihn überstimmt. Mit erhobener Faust und gesenktem Kopf hatte er den Saal verlassen, war aus der Gewerkschaft ausgetreten.
    Der Blaue Saal war zur Hälfte besetzt. Vorn am Tisch, über den ein grünes Tuch gebreitet war, sassen zwei Männer und eine Frau, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. An der Wand hinter ihnen klebte ein Poster mit schwarzer Schleife, ein Bild des Verstorbenen. Martin Kunz mit weisser Mähne und melancholischen Tränensäcken. Ein Wahlplakat der Grünen, der Slogan weggeschnitten. Den Tisch schmückten zwei karge Sträusse mit Nelken. In der Ecke des Saals standen ein Hackbrett und Notenständer bereit.
    Er wandte sich der hintersten Reihe zu, wo ein Hagerer auf einem Stuhl flegelte, die Beine weit von sich gestreckt, Hörer in die Ohren gestöpselt. Hermann. Die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die käsige Gesichtshaut mit Sommersprossen gefleckt, Seehundschnauz. Eine Jeansjacke schlotterte um seine dünnen Arme. Der rote Hermi. Er musste um die siebzig sein, doch seine Haare hatten ihre Rostfarbe behalten. Vielleicht wurden Rothaarige gar nie grau. Gelegentlich hatte er ihn ins Tram einsteigen sehen, vermutlich ohne Billett. Pippo sah es den Schwarzfahrern an, wie sie vor jeder Station unruhig nach Kontrolleuren Ausschau hielten. Einmal hatte er die Zentrale angerufen, aus einer Laune heraus. Am Paradeplatz hatten die Kontrolleure den Rostkopf freundlich empfangen.
    Hermann hob die Hand zu einem müden Gruss. Hinter ihm an der Wand über dem blauen Täfer hing noch immer das Bronzerelief mit dem Kopf des Spitzbarts.
    W. I. Lenin, der Begründer der Sowjetunion
    des ersten sozialistischen Staates der Welt
    sprach hier in diesem Saale am 9. Januar 1917
    über die Bedeutung der russischen Revolution von 1905 .
    Pippo setzte sich mit einem Stuhl Abstand neben Hermann, ohne ihm die Hand zu reichen. Der zupfte einen der Stöpsel aus dem Ohr. «Schön, hast du es geschafft.»
    Pippo wischte sich mit dem Handrücken einen Tropfen von der Nase. Es war vierzehn Uhr vorbei, doch noch immer kamen Leute herein, sahen sich nach Bekannten um, grüssten mit gedämpfter Stimme.
    Hermann beugte sich herüber. «Alles klar?»
    Pippo nickte.
    «Pensioniert?»
    «Du sagst es.»
    «Städtischer Angestellter hätte man sein sollen. Mit fünfundsechzig die Füsse hoch.»
    «Klaro», murmelte Pippo. «Hättest dich ja auch bewerben können.»
    «Ich war in der falschen Partei.»
    «Ich auch, wie du weisst. Und noch mehr.»
    «Wie hast du überhaupt die Stelle bekommen? Ich meine …»
    «Als Knastbruder, meinst du?» Pippo stand auf. Hermann nervte ihn, er hatte sich nicht verändert. Nebst der Haarfarbe war ihm das lose Maul geblieben.
    «Als politischer Gefangener, meine ich.»
    Pippo wandte sich ab, wollte sich weiter vorn hinsetzen. Da stupfte ihn Hermann in die Seite. «Schau mal, wer da kommt …»
    Eine junge Frau trat in den Saal, eine Art Beret mit flachem Deckel auf dem Kopf, einen Schal um den Hals gewickelt. Ein älterer Herr in einem Regenmantel folgte ihr. Sie eilte zum Tisch, umarmte die

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