Zores
völlig außer Atem, als er in seinem Stockwerk anlangte.
Er atmete mehrmals tief durch. Dann wandte er sich der Tür zu seinem Amtszimmer zu. Als er sein Büro betrat, saß Cerny bereits an seinem Schreibtisch. „Und?“, empfing er seinen Chef, „was herausgekommen?“
Bronstein schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Aber ich sag dir, ich mach mir echte Sorgen um dieses Land. Es ist unglaublich, welche Einstellung die Leute haben. Nicht einmal im Krieg habe ich so viel Wut, Hass und Enttäuschung gespürt wie jetzt.“
Schwer ließ er sich auf seinen Sessel plumpsen. Er stöhnte und stützte den Kopf in die Hand. „Ich mein, ich kann die sogar verstehen! Nichts geht weiter, überall nur Not und Elend, und keine Perspektive, dass sich das ändert …“
„Außer natürlich durch den Schreihals aus Braunau“, warf Cerny ein. Bronstein fuhr hoch: „Jetzt komm mir du nicht auch noch mit diesem böhmischen Gefreiten!“
„Doch nicht ich! Aber die Menschen sehen das so. Die hören andauernd Wunderdinge über Deutschland, wie es wieder aufwärts geht und so. Schau dir doch selbst diese Wochenschauen an, die sie in Pressburg zeigen. Überall wird gebaut, überall gibt es Arbeit, Geselligkeit, Spielmannszüge, Eintopfgemeinsamkeit. Man packt an, man blickt in die Zukunft. Und das alles als riesige Volksgemeinschaft. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde sogar ich ihnen das abkaufen!“
Bronstein knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass Cerny recht hatte. Er erinnerte sich an einen Artikel, den er erst kürzlich über die „Wilhelm Gustloff“ gelesen hatte. Das Kreuzfahrtschiff sollte dieser Tage zu seiner Jungfernfahrt auslaufen, und schon jetzt überschlugen sich auch ausländische Gazetten vor Begeisterung über diesen neuesten Stolz des Reiches. Für diese „Königin der Meere“ schien es nur Superlative zu geben. Sie war auf 1.500 Passagiere ausgelegt, die von 500 Besatzungsmitgliedern betreut werden sollten. Die Kabinen waren für Fahrgäste und Besatzung gleich. Die Passagiere waren in Touristenklasse-Kabinen untergebracht. Es gab ausschließlich Außenkabinen für zwei oder vier Personen. Alle verfügten über fließendes kaltes und warmes Wasser, Tisch, Sofabank, Stockbetten und einen Kleiderschrank für jeden Fahrgast. So etwas kannten die klassischen Ozeanriesen der Briten oder Amerikaner nicht, wo die Klassengesellschaft sogar an Deck noch deutlich gemacht wurde. Die Reichen bewohnten ganze Schiffsbereiche, die Armen wurden in den Schiffsrumpf verbannt. Die Nazis posaunten nun in alle Welt hinaus, dass bei ihnen jeder Volksgenosse absolut gleich behandelt würde, sei er nun Straßenkehrer oder Reichsgerichtspräsident. Und alle Einrichtungen durften von allen Passagieren in gleicher Weise genutzt werden. Das Sonnendeck mit Sportplatz und Turnhalle, das Promenadendeck mit Theater- und Kinosaal, das schiffseigene Schwimmbad, die Wäscherei, der Friseur und all die kleinen Geschäfte, die es an Bord ebenso gab wie eine eigene Bäckerei, eine Fleischhauerei und sogar ein Spital. Nichts schien vergessen worden zu sein an diesem Wunderwerk der Technik, gegen das sich die alte „Titanic“ wie der Schrottkahn ausnahm, der er dann ja auch letztlich gewesen war. Kein Wunder also, dass die Nazis von einem „Schiff ohne Klassen“ sprachen, wie Bronstein erst kürzlich gehört hatte.
Nicht minder populär waren die Freizeiteinrichtungen der sogenannten „Kraft durch Freude“-Bewegung der Nazis. An dem Seebad „Prora“ auf Rügen wurde seit geraumer Zeit gebaut, und die Zimmer dort waren geräumiger als jedes Mittelklassehotel und boten einen unvergleichlichen Meerblick. Von solch einem Urlaub konnte die überwältigende Mehrheit der Österreicher nur träumen. Und seit neuestem entwickelte, wie es hieß, Ferdinand Porsche für die Nazis einen „Volkswagen“, den sich jeder Volksgenosse leisten können sollte. Über dieses Projekt hatte Cerny ihm erzählt, weil Porsche für dieses Auto einfach die Karosserie des tschechischen „Tatra“ kopiert hatte. Tatsächlich verlangten die Nazis für diesen Wagen lediglich 990 Reichsmark, was gerade einmal zwei Monatsgehältern Bronsteins entsprach. Auf diese Weise würde sogar er sich ein Automobil leisten können, hatte er damals gedacht.
All das war natürlich nur Propaganda. Aber es war wirkungsvolle Propaganda! Hierzulande hatten die Leute nicht einmal Arbeit, geschweige denn das Geld, für einen Urlaub oder gar ein Auto zu sparen. Und eine
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