Zores
da!“ ignorierte er. Als er denVolksgarten im Blick hatte, wandte er sich nach rechts und eilte dem Burgtheater zu. Von dort hetzte er am „Landtmann“ und am Liebenbergdenkmal vorbei, sodass er endlich zur Schottengasse kam, von wo aus er das Präsidium bereits sehen konnte. Bronstein überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass Cerny mittlerweile wohl mit der Unfallsache vor Ort auch fertig sein musste. Demnach würden sie beide ziemlich zeitgleich im Büro erscheinen. Bronstein überquerte eilig den Ring und eilte keuchend in sein Amtszimmer.
Dort drehte er als Erstes den Radioapparat auf. Ernste Musik erklang, die Bronstein keinem Komponisten zuordnen konnte. Er sah auf die Amtsuhr. Bis acht Uhr waren es noch einige Minuten, er konnte sich also ein wenig entspannen und zu Atem kommen. Er kramte in seinen Taschen nach seinen Zigaretten, als er plötzlich eine Stimme im Radio vernahm.
„Wir unterbrechen unser Programm für eine Rede des die Geschäfte führenden Bundeskanzlers Kurt Edler von Schuschnigg.“
Die Ankündigung kam Bronstein bemerkenswert vor. Schuschnigg wurde bereits nicht mehr als Kanzler vorgestellt, sondern als jemand, der die Geschäfte führte. Eigentlich brauchte man die Rede gar nicht mehr anzuhören, man wusste schon zuvor, was es geschlagen hatte. Bronstein stellte den Ton etwas lauter, führte mit leicht zitternder linker Hand eine „Donau“ zu seinem Mund, schnappte dann die auf dem Schreibtisch liegenden Streichhölzer und zündete die Zigarette an, ehe er sich endlich schwerfällig auf seinen Sessel niederließ. In der Zwischenzeit war knisternd und krachend die brüchige Stimme des Tirolers zu hören.
„Der heutige Tag hat uns“, begann dieser, „vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt.“
Eine glatte Untertreibung, dachte Bronstein.
„Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk über die Ereignisse des Tages zu berichten.“
Na bitte, vom Kanzler zum Nachrichtensprecher in weniger als vier Stunden. So schnell konnte es gehen, schoss es Bronstein durch den Kopf. Mit Mühe konzentrierte er sich wieder auf den monotonen Singsang, mit dem der gewesene Regierungschef seine Botschaft verkündete: „Die deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen und die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen würde.“
So weit war es also schon gekommen. Die Nazis setzten Österreich tatsächlich das Messer an die Kehle. Das war pure Nötigung! Im Individualfall eine klare Angelegenheit für den Strafrichter. Aber hier? Das Land musste nach der Pfeife der Nazis tanzen, sonst würde es vernichtet! Bronstein fröstelte, und mit klammen Fingern dämpfte er die Zigarette aus, die er viel zu schnell aufgeraucht hatte. Die Sache war ja vollkommen klar: Hitler würde Miklas dazu zwingen, Seyß-Inquart zum Kanzler zu machen, und dann erhielt der so gedemütigte Präsident eine aus Berlin übermittelte Liste an braunen Lokalgrößen, die er dann kommentarlos anzugeloben hatte, wenn er nicht um sein eigenes Leben fürchten wollte.
Schuschnigg war, während Bronstein noch das eben Gehörte irgendwie zu verarbeiten suchte, mit seiner Rede fortgefahren. Der Oberst sah höchst verwundert auf den Apparat. In Österreich gab es Unruhen? Er hatte davon gar nichts bemerkt!
„Ich stelle vor der Welt fest, dass die Nachrichten, die in Österreich verbreitet wurden, dass Arbeiterunruhen gewesen seien, dass Ströme von Blut geflossen seien, dass die Regierung nicht Herrin der Lage wäre und aus Eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind.“
Ach so, atmete Bronstein erleichtert auf. Anscheinend hatten die Nationalsozialisten wieder einmal auf Gräuelpropaganda gesetzt und weiß Gott was erfunden, um ihren Einmarsch im Nachbarland zu legitimieren. Wenigstens das hatte Schuschnigg noch klarstellen können, wenngleich es wohl nichts mehr nutzen würde, dachte Bronstein bitter. Die Briten und die Franzosen würden keinen Finger rühren für ein Land, das sie schon 1918 nicht gemocht hatten. Und der Glatzkopf in Rom war seit seinem verunglückten Afrika-Abenteuer von Hitler abhängig, der würde sich auch nicht mehr für Österreich exponieren. Österreich war auf sich selbst
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