Zorn der Meere
Leben bangten.
-387-
Sie polierten die Stiefel ihrer Herren, säuberten die roten Röcke des Generalkapitäns und der Offiziere, wuschen deren Wäsche oder zimmerten neue Möbelstücke. Nachts hockten sie in der Dunkelheit und warteten auf Befehle, trugen Speisen und Wein auf und holten die Frauen aus den Zelten, mit denen ihre Herrschaft sich amüsieren wollte.
Jeronimus und seine Anhänger wähnten sich inmitten jenes goldenen Traumes, den sie sich schon auf der Batavia ausgemalt hatten.
Hier hatte er sich erfüllt.
Judith sah, dass sich die Frauen am Ufer niedergelassen hatten. Anneken Hardens, die mit bleichen Wangen vor sich hinstarrte, Tryntgen, die sich im Wasser Blut aus den Röcken wusch, Sussie, die ihre Arme um die Knie geschlungen hatte, und Mayken Cardoes, die sich ein nasses Tuch an die Schläfe hielt. Auf ihrem Kinn breitete sich ein dunkler Bluterguss aus.
Als Judith sich ihnen näherte, hörte sie, dass Mayken Cardoes zu den anderen sagte: »Die feine Frau van Huyssen kommt und erfreut uns mit ihrem Besuch.«
Tryntgen wandte sich um. »Keine Sorge«, erklärte sie giftig.
»Die redet nicht mehr mit dem gemeinen Volk.«
Mayken streckte die Hand aus. »Gebt uns ein Almosen!«, bettelte sie spöttisch.
»Lasst sie zufrieden«, wies Sussie die anderen an. »Ihr geht es doch auch nicht besser als uns.«
»Da bin ich anderer Meinung«, erwiderte Mayken. »Sie hat nur einen Schwengel zu bedienen, aber uns besteigt die ganze Meute.«
Judith spürte, dass ihre Augen zu brennen begannen. Sie hatte geglaubt, die Frauen wären ihre Freundinnen. Womit hatte sie ihren Hass verdient? Litt sie nicht ebenso wie sie? Hatte sie nicht weitaus mehr als sie verloren?
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»Seht ihr!«, höhnte Tryntgen. »Sie gibt uns keine Antwort.«
Judith machte auf dem Absatz kehrt.
Sussie rannte hinter ihr her und rief ihren Namen, doch Judith tat, als höre sie sie nicht.
Wenn sie das wo llen, können sie es haben, entschied sie trotzig. Ich kann mich auch als hohe Dame dieses Schreckensreiches gebärden.
Lucretia glaubte, ein Geräusch zu vernehmen. Für einen Moment zauderte sie, doch dann erhob sie sich entschlossen und trat ins Freie.
»Psst«, machte jemand. »Ich bin es. Andries.«
Lucretia blickte sich um. Sie entdeckte Andries, der sich hinter dürrem Gestrüpp verborgen hatte.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, fragte Lucretia leise.
»Niemand darf mich besuchen. Das weißt du doch.«
»Ich muss mit Euch reden«, wisperte Andries.
Lucretia winkte ihn hastig zu sich herein. Andries folgte ihr geduckt.
Drinnen erschrak Lucretia beim Anblick seines Gesichtes. Es war grau, vor Angst versteinert, die Augen wirkten leer und tot.
Was hatten diese Ungeheuer dem Jungen angetan?
»Andries«, hub sie so sanft wie möglich an. »Was bedrückt dich so sehr, dass du so viel wagst?«
Andries wollte etwas sagen, doch stattdessen brach er in Tränen aus und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Als Lucretia seine Schulter berühren wollte, zuckte Andries zurück. »Ihr dürft mich nicht anfassen«, murmelte er.
»Andries«, erwiderte Lucretia besänftigend. »Was hast du denn? Was ist denn nur geschehen?«
»Es tut mir so Leid, Madame«, stieß Andries hervor. »Aber...
ich musste es tun... sie haben mich dazu gezwungen.«
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»Wozu, mein Junge? Was musstest du tun?«
Andries schüttelte stumm den Kopf. Tiefe Schluchzer brachen aus ihm hervor.
Lucretia warf einen besorgten Blick zum Eingang hinüber.
Wenn Zeevanck oder einer der anderen ihn hörte, kämen sie sofort herbei und brächten ihn um.
»Sei still, Andries«, befahl sie ihm. »Komm, sei jetzt ganz ruhig. Sag mir, was vorgefallen ist.«
»All die Menschen!«, stöhnte er und schlang die Arme um seinen Körper.
Lucretia spürte, wie sich die Furcht in ihr zu regen begann.
»Welche Menschen?«, fragte sie müde.
»Sie haben mich gezwungen«, wiederholte Andries mit einem trotzigen Unterton. »Wenn man zu etwas gezwungen wird, hat man es eigentlich nicht getan, oder? Man zwingt Euch doch auch, Jeronimus' Ehefrau zu spielen -«
»Nein, Andries, dem ist nicht so«, unterbrach Lucretia ihn.
»Ich bin nicht seine Frau. Ich habe ihm nicht nachgegeben.
Warum nimmst du so etwas an? Dergleichen käme für mich niemals in Frage.«
In Andries' Augen loderte etwas auf, das Lucretia noch nie an ihm wahrgenommen hatte und das sie an Hass erinnerte. Wie um ihren Eindruck zu bestätigen, bemerkte Andries zornig: »Ihr seid auch nicht besser als
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