Zorn der Meere
die anderen! Ihr tut nur so, weil Ihr das glauben möchtet.«
»Sag mir, was du angerichtet hast, Andries! Es ist etwas Schlimmes, nicht wahr? Ich sehe es in deinem Blick.«
»Sie waren... krank«, murmelte Andries. »Sie wären ohnehin... gestorben.«
Lucretia entsann sich des Tages, an dem die Toten aus dem Krankenzelt getragen wurden. Zeevanck hatte sie zuerst
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verscharrt, doch später hatte man ein Loch ausgehoben, die Leichen hineingeworfen und das Loch mit Sand gefüllt.
»dm warst das?«, fragte Lucretia ungläubig. »Du hast sie ermordet?«
»Sie wären ohnehin gestorben«, beharrte Andries. »Jeronimus wollte, dass ich sie erlöse.«
Ekel malte sich auf Lucretias Zügen ab. Als Andries die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück.
Andries' Miene bettelte um Vergebung. »Ihr hättet das Gleiche getan«, sagte er.
Lucretia schüttelte stumm den Kopf.
»Sagt doch etwas«, bat Andries.
Lucretia erkannte wohl, dass Andries litt, dass er nach Mitleid und Verständnis heischte, doch so sehr sie sich auch bemühte, fand sie dennoch kein Wort des Trostes für ihn.
»Ich musste es tun«, wiederholte Andries noch einmal.
»Besser hättest du dich töten lassen«, flüsterte Lucretia.
Andries starrte sie an. »Und wie kommt es, dass Ihr noch am Leben seid?«, erkundigte er sich barsch. Seine Augen brannten dunkel in dem fahlen Gesicht. »Ich dachte, Ihr wäret meine Freundin.«
Lucretia blickte hinüber zu den Zeltbahnen, die sich im Wind blähten. Sie hörte die Brandung rauschen, und mit einem Mal empfand sie die Übermacht des Grauens als so bedrückend, dass es ihr die Luft abschnitt und sie laut aufstöhnte.
»Sagt doch bitte etwas!«, hörte Lucretia Andries betteln. »Nur ein Wort. Irgendetwas.«
Lucretia brachte es nicht einmal fertig, Andries anzusehen.
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und rang nach Atem.
»Ich werde gehen, Madame«, flüsterte Andries. »Ihr seht mich nicht mehr wieder.«
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Er machte kehrt und stürzte hinaus in die Nacht.
Am nächsten Morgen betrat Jeronimus Lucretias Zelt. Es war offenkundig, dass er sich in blendender Laune befand.
»Nun, meine Liebe«, begrüßte er sie warm, »so ganz allein?«
»Ich dachte, das hättet Ihr angeordnet?«
»Gewiss, gewiss«, entgegnete Jeronimus aufgeräumt.
»Dennoch hätte ich geschworen, Andries de Vries steckt hier irgendwo.«
Jemand hat den Jungen erkannt, als er aus meinem Zelt stürmte, fuhr Lucretia durch den Kopf. Und wer immer das war, er hat es anschließend Jeronimus zugetragen.
»Werdet Ihr ihn nun auch umbringen lassen?«, fragte Lucretia.
Jeronimus wiegte bedächtig seinen Kopf. »Wäre das nicht das Beste? Habe ich nicht geschworen, Euch zu beschützen?«
»Vor Andries? Er ist noch ein halbes Kind.«
»Oh, oh, oh! Der kleine Andries! Ich glaube, Ihr würdet Euch über ihn wundern. Andries ist ein Mörder. Er tötet selbst kranke Menschen.«
»Ich bin aber nicht krank, insofern -«
Jeronimus unterbrach sie kopfschüttelnd. »Als ob das für ihn eine Rolle spielte! Krank oder nicht krank, Andries ist das einerlei.«
Lucretia studierte Jeronimus' Miene. Verspottete er sie?
Jeronimus trat auf sie zu und strich ihr über die Wange. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn Euch jemand ein Leid zufügte«, murmelte er.
»Verschont Andries«, bat Lucretia. »Mir zuliebe.«
»Euch zuliebe«, wiederholte Jeronimus versonnen. »Ich habe Euch zuliebe bereits sehr viel getan, Madame. Glaubt Ihr nicht, Ihr solltet Euch einmal revanchieren, ehe Ihr mehr verlangt?«
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»Ich habe nichts, was ich Euch bieten kann.«
»Lucretia, Lucretia! Wir wissen beide ganz genau, wovon ich rede.«
Lucretia schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich.«
»Schade.« Jeronimus wandte sich ab, ging ein paar Schritte und hielt dann noch einmal inne, um fragend zurückzuschauen.
Lucretia holte tief Luft. »Nein.«
Jeronimus verneigte sich knapp und verschwand.
Lucretia hörte, dass er im Davoneilen Zeevanck zu sich befahl.
XXIV
Der Mensch behauptet gern, der Teufel habe ihn zu dieser oder jener Missetat getrieben, woraufhin ich häufig sprachlos bin und - ich gebe es zu - oftmals auch gekränkt.
Um das einmal klarzustellen: Ich treibe oder zwinge die Menschen zu gar nichts - ich teste allenfalls Möglichkeiten aus.
Ich hätte sie in Versuchung geführt! Wenn ich das schon höre! Wie kann man beten, nicht in Versuchung geführt zu werden? Was soll dieser Unfug?
Heißt das, ohne Versuchung wäre man
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