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Zorn der Meere

Zorn der Meere

Titel: Zorn der Meere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Falconer,Colin
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heilig? Oder heißt das, lass mir lieber keine Wahl, weil ich sonst scheitern werde?
    Die Versuchung ist dazu da, die Willenskraft eines Menschen zu prüfen. Wenn jemand da um Verschonung bittet, stellt er sich doch ein Armutszeugnis aus.
    Ich habe auch schon gehört, die Versuchung sei zu groß gewesen. Dass ich nicht lache! Sie war doch nur dann zu groß, wenn ihr nicht widerstanden wurde, oder?
    Eigentlich müsste es demnach heißen: Ich war zu schwach, ich bin ein Wurm. Aber etwas Falsches zu tun, mir dann Schuld
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    in die Schuhe zu schieben, und sich auch noch beklagen - das ist doch wohl äußerst erbärmliches Theater.
    Der Grund liegt natürlich in der Annahme, der Mensch sei gut, so dass seine Übeltaten nicht aus ihm entstehen können.
    Ginge man jedoch davon aus, dass die menschliche Natur Gutes wie Schlechtes enthält, müsste man nicht ständig bei Fehltritten mich zitieren.
    Ich habe noch keine Frauen vergewaltigt, Kinder ermordet oder das Rad für die Streckbank gedreht... ach, was rege ich mich auf! Es ist immer dasselbe.
    Aber ärgerlich ist es doch.

    Auf dem Friedhof

    Als Lucretia die Schreie hörte, fing sie an zu laufen.
    Zuerst fiel ihr Blick auf Jeronimus, der mit verschränk ten Armen dastand, mit diesem seltsamen Leuchten in den Augen -
    ein Müßiggänger, der ein unterhaltsames Spektakel beobachtet.
    Danach entdeckte Lucretia van Os und Jan Hendricks, die Andries vor sich her durch die Lagune trieben. Sie lachten ausgelassen und spritzten Wasserfontänen auf.
    Andries versuchte Haken zu schlagen und strauchelte, bis sie über ihn herfielen und ihre Schwerter und Äxte schwangen.
    Jeronimus spendete ihnen wohlwollend Beifall, ehe er sich abwandte und sich in sein Zelt begab.
    Lucretia sah, wie der blutüberströmte Körper über den Strand geschleift und vergraben wurde.
    Die Sünde, deren Andries sich schuldig gemacht hat, hat ihm nichts genutzt, dachte Lucretia. Jeronimus hatte ihn längst zum Tod verurteilt, vermutlich von Anfang an.
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    Lucretia sah, dass Deschamps sie beobachtete. Sie trat zu ihm hin. »Könnt Ihr denn gar nichts unternehmen?«, fragte sie.
    »Was ist mit Euch?«, fragte er zurück. »Könnt Ihr es?«
    Auch Judith hatte miterlebt, wie Andries umgebracht wurde.
    Nie hätte sie geglaubt, dass sie ein derartiges Grauen ertragen könnte, doch inzwischen nahm sie es nahezu gleichmütig hin.
    Im Herzen scheint eine Kraft zu stecken, dachte sie, mit der man jeden Schrecken aushält, solange er einen nicht selbst bedroht.
    Entweder bin ich abgestumpft, folgerte sie, oder ich bin eine andere geworden. In gewissem Sinne hatte man auch ihr den Kopf abgetrennt und an seiner Stelle einen neuen eingesetzt, einen, der sich seltsam fremde Gedanken zusammenreimte.
    Ihr alter Kopf trieb mit den vielen abgeschlagenen Köpfen auf dem Meer oder war mit ihnen versunken. Er hatte ihre Vergangenheit mit sich genommen, ihre Erinnerungen an Amsterdam, an ihr Haus und an ihre Familie.
    In Judiths neuem Kopf hauste ein Mann namens Conrad. Er war nett. Er bot ihr Sicherheit. Sie schlief mit ihm. Das bereitete ihr Vergnügen.
    Sie führe kein schlechtes Leben, flüsterten die neuen Gedanken Judith zu. Sie war mit einem Adligen verheiratet. Ihr Mann sah wundervoll aus. Er verstand es, sie glücklich zu machen.
    Die Frau, die sie früher einmal gewesen war, hätte um ihre Familie getrauert, so viel wusste Judith, doch die neue Judith träumte lieber davon, was sie und ihr Mann in den Nächten miteinander taten. Sie dachte an den blonden Flaum auf seiner Brust und seinen Armen, die winzige Narbe an seiner Schläfe, den weichen Bart, sein Stöhnen, wenn sie ihn berührte.
    Ich werde in meinem neuen Kopf verweilen, beschloss Judith, denn ihn interessieren weder Vergangenheit noch Zukunft. Er beschäftigt sich mit der Gegenwart und sieht zu, dass mir nic hts geschieht. Es gibt zwar noch eine Stimme, die raunt, Gott habe
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    mich verdammt, doch sie ist schwach. Die laute Stimme sagt, dass Gott mich verlassen hat. Demnach wäre ich in der Hand des Teufels. Warum nicht? Ich werde das Beste daraus machen.
    Pfarrer Bastians hatte sich auf eine Klippe zurückgezogen.
    Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er in seiner zerfledderten Bibel las. Als ein Schatten über die aufgeschlagenen Seiten fiel, zuckte er zusammen und blickte ängstlich auf.
    »Judith, Conrad, ihr seid es«, bemerkte er aufatmend.
    Conrad stieß ihn mit der Stiefelspitze an. »Ist das alles?«, fragte er. »Wisst Ihr

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