Zorn der Meere
gelangweilt und zerstreut. Schließlich zuckte er die Achseln. »Heute nicht«, beschied er Hendricks. »Morgen vielleicht - es sei denn, ich brauchte ihn unverhofft.«
Judith atmete auf. Noch einmal davon gekommen, dachte sie.
Noch einmal einen Tag gewonnen.
Es kommt der Moment, an dem sich der Geist verschließt und den Schrecken, den er bewältigen soll, nicht mehr erfasst, dachte Lucretia. An dem Punkt bin ich angelangt.
Tag für Tag saß sie auf demselben Platz oben auf den Klippen, spielte mit dem Stiel eines blassen Gänseblümchens und starrte auf das Meer und den Strand. Manchmal stellte sie sich vor, wie es sein würde, in die Tiefe zu taumeln und unten aufzuschlagen oder hinauszuwandern und im grauen Wasser zu versinken. Dann würde es keinen Rückweg mehr geben. Nie mehr.
»Ich weiß, woran Ihr denkt«, krächzte eine Stimme.
-423-
Neben Lucretia hockte plötzlich ein Gerippe, mit struppigem Bart und vorwurfsvollem Blick.
»Pfarrer Bastians, seid gegrüßt.«
»Sich selbst zu töten ist eine Sünde. Sie wird in Eurem nächsten Leben mit weitaus größeren Qualen bestraft.«
»Wie kann eine Tat sündig sein, wenn sie uns davon abhält, weitere Sünden zu begehen?«
»Weil der Herr das so angeordnet hat. Seine Wille ist Gesetz.« »Sein Gesetz sollte uns Auswege lassen«, murmelte Lucretia und erhob sich. Es dunkelte. Es war Zeit, zurückzugehen. In ihrem Zelt wartete der Teufel, um sie zu umfangen.
siebenundzwanzigster Tag des Juli im Jahre des Herrn, 1629
Am nächsten Tag war der Himmel klar, und das Meer wellte sich sanft und blau wie ein Teppich bis hin zum Horizont.
Lucretia hatte bereits auf dem Floß Platz genommen.
Jeronimus prüfte vor seinem Zelt noch den Sitz seines schwarzen Kommandeurshutes und strich über seinen roten Rock. Er wandte sich zu seinen Männern um, die ungeduldig auf den Beginn ihres Abenteuers warteten. »Auf geht's«, ermunterte er sie vergnügt.
In schnellem Schritt eilten sie an den Strand, wo Allert Janz und Mattys Beer das Floß für Jeronimus fest hielten.
»Meine Dame begleitet mich, um uns zu bewundern«, erklärte Jeronimus, während er sich auf das Floß helfen ließ.
Er zog einen Seidenbeutel hervor, entnahm ihm einen Edelstein und hielt ihn hoch. »Der gehört demjenigen, der die meisten Meuterer erlegt«, verkündete er.
Die Männer zollten ihm johlend Beifall.
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Jeronimus ließ sich Lucretia gegenüber nieder. Er lehnte sich zurück und strahlte sie unternehmungslustig an. »Heute werden wir uns eine kleine Abwechslung gönnen«, sagte er.
Wie ruhig es sich in die Schlacht ziehen lässt, wenn der Feind nicht bewaffnet ist! dachte Lucretia.
Die glitzernden Funken auf den Wellen stachen ihr in die Augen. Sie legte ihre gewölbte Hand an die Stirn und sah zu, wie sie in den Kanal einbogen, wo die Strömung sie erfasste und nach Westen trieb, auf die Lange Insel zu.
Als Jeronimus Lucretias Blick auffing, grinste er fröhlich und beugte sich vor. »Schau nicht so besorgt drein«, bat er sie. »Ich passe schon auf, dass mir nichts geschieht.«
Er meint das ernst, stellte Lucretia fest. Er nahm an, dass sie ihn liebte.
Als sie sich der Langen Insel näherten, erhob sich auf dem Floß verwundertes Gemurmel.
»Wo stecken die Mistkerle?«, fragte van Luyck.
Sie wandten suchend die Köpfe um.
Lucretias Blick blieb auf Zeevanck haften. Welch eine eigenwillige Laune des Schicksals! dachte sie. Wenn die Felsen nicht gewesen wären, säße er nun in Batavia, hielte statt seines Schwertes eine Feder in der Hand und wäre dabei, Frachtpapiere zu kopieren.
Im Stillen betete Lucretia, Wiebe Hayes und seine Kameraden würden entkommen, befürchtete jedoch, dass ihr Gebet unerhört verhallte.
Pelgrom sprang als Erster ins Wasser, stolperte und stürzte, woraufhin die anderen schallend lachten.
»Lass dir Zeit, Junge!«, rief Jeronimus. »Es sind doch genug für alle da.«
»Das wird eine zweite Robbeninsel«, verkündete Zeevanck, ehe er sich erhob.
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Jeronimus erhaschte Lucretias Blick. »Hayes ist ein Meuterer, und all die anderen auch«, erklärte er. »Sie bekommen nur das, was ihnen gebührt. Und nun mach endlich ein anderes Gesicht, Lucretia! Du wirst ein grandioses Schauspiel miterleben.«
»Sie sind unbewaffnet«, hielt Lucretia ihm vor.
Jeronimus zuckte mit den Schultern. »Ja, und? Es ist mir neu, dass man Meuterern Waffen austeilt.«
Einer nach dem anderen sprang in die seichten Wellen - bis auf Jeronimus.
»Begleitet Ihr
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