Zorn der Meere
willst du mit ihr?«
Conrad murmelte etwas, das Judith nicht verstand. Doch sie hörte das laute Gelächter der anderen und kroch ein Stück näher.
»Sag das noch einmal«, prustete einer.
»Nein.« Conrad lachte. »Einmal reicht.«
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»Da habe ich aber gerade etwas anderes vernommen«, grunzte van Weideren. »Du kannst es allerdings auch feiner ausdrücken, van Huyssen. Warum sagst du nicht einfach, die Kleine ist unersättlich?«
Judith zog sich leise zurück. Warum tut es so weh, wenn dieses Ungeheuer solche Dinge über mich verbreitet? fragte sie sich. Warum macht mir das mein Herz so unendlich schwer?
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XXVII
Vermutlich hat es sich bis zu Ihnen herumgesprochen, dass Opfer für ihre Peiniger bisweilen Zuneigung, wenn nicht gar Liebe empfinden. Das ist weniger überraschend, als man im ersten Moment glaubt. Eher ist es ein weiteres Beispiel dafür, wie leicht die Dinge auf den Kopf zu stellen sind.
Gewöhnlich besteht ja der Mensch auf einer Unzahl an Gunstbeweisen, bis ein anderer ihn davon überzeugen kann, dass er ihn liebt. Immer wieder muss das geschehen, immerzu, ja, ich liebe dich, ich liebe dich wirklich, und so weiter - nie ist es gut genug, nie ausreichend. Das ist an sich bereits erstaunlich, doch weitaus erstaunlicher ist noch, dass es auch anders herum funktioniert: indem man nämlich wenig bietet, und noch weniger... bis hin zu einem winzig kleinen Hoffnungsschimmer.
Der bewirkt dasselbe wie tausend Schwüre. Und dies ist auch das Prinzip, nach dem der Peiniger mit seinem Opfer verfährt.
Zuweilen ein bisschen weniger quälen, manchmal die Schraube nicht enger ziehen, einmal früher die Marterstunde beenden -und im Nu hält Ihr Opfer Sie für wohlgesinnt, es wird dankbar, es ist Ihnen ergeben. Und mit der Zeit begreift es sein Gefühl als Liebe.
Judith ist so ein Fall.
Lucretia etwa desgleichen? (Ich bitte Sie, ich werde Ihnen doch die Spannung nicht rauben!)
Ein anderer Fall ist Pfarrer Bastians. Pfarrer Bastians hat sich in niemanden verliebt. Pfarrer Bastians ist ein Fall für sich. Er scheint mir nichts mehr zu empfinden, außer dass er vom Essen fantasiert. Eigentümlich, wie wenig Gottes Wort ihn nährt!
Doch wen will das wundern? Mich gewiss nicht.
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Auf dem Friedhof
Die Gestalt, die da wie ein geprügelter Hund auf dem Sand hockt, ist mein Vater, dachte Judith. Ich sollte stehen bleiben und ihn begrüßen.
»Guten Tag, Vater«, sagte sie mit einem Seufzer.
»Ich ertrage das nicht mehr«, jammerte Pfarrer Bastians.
»Das geht hier jedem so.«
»Ich habe nicht genug zu essen. Ich bin durstig. Ich rackere mich ab für diese Teufel. Womit habe ich diese Prüfungen verdient?«
»Womit hatte Hiob seine Prüfungen verdient, Vater? Erinnert Ihr Euch nicht mehr an ihn?«
Pfarrer Bastians winkte ab. Er griff nach Judiths Rock.
»Judith«, bettelte er, »ich bin zu schwach, um zu stehen. Du bist meine Tochter. Warum hilfst du mir nicht?« Er blickte klagend zu ihr auf.
»Lasst mich los«, bat Judith. »Die anderen sollen Euch nicht so sehen.«
Pfarrer Bastians schlug seine Hände vor das Gesicht. »Wenn du mich eines Morgens ermordet auffindest«, wimmerte er,
»dann tut es dir gewiss Leid. Danach sieh wenigstens zu, dass die Richter ihrer habhaft werden. Versprich mir das!«
»Der Herr wird uns richten«, antwortete Judith mechanisch.
Sie hörte zu, wie ihre Worte verklangen, und stellte fest, dass ihr Nachhall sie berührte. Was werde ich dem Herrn sagen, wenn ich vor ihm stehe? fragte sie sich. Wie werde ich mich für das rechtfertigen, was ich gedacht und begangen habe?
Als Judith aufsah, entdeckte sie, dass Jeronimus auf sie zugeschritten kam. Sie erkannte die Vorfreude auf seinem Gesicht.
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Jeronimus winkte Jan Hendricks zu sich und deutete auf Pfarrer Bastians.
»Was tut dieser Mann noch hier?«, fragte er.
»Wollt Ihr ihn loswerden?«, fragte Hendricks zurück, indem er seine n Säbel zog.
Er blickte Pfarrer Bastians verächtlich an, doch dieser hatte sich in sich verkrochen und reagierte nicht.
Jeronimus betrachtete ihn brütend und leicht verdrossen.
»Natürlich will ich ihn loswerden«, murmelte er. »Was sonst?«
»Wie wollt Ihr es haben? Säbel oder Strick?«
Was werde ich tun, falls sie es ernst meinen? fragte sich Judith. Ob ich mich dazwischenwerfe und dadurch mein Leben opfere? Oder wende ich mich ab, lasse auch das geschehen und bin dankbar, dass man mich verschont?
Jeronimus tat so, als wäge er ab, doch er tat es
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