Zorn der Meere
Gewehren in Schach.
-472-
Dem Hässlichen ließ Francois umgehend die Hände auf den Rücken binden.
»Was soll das, Herr Kommandeur?«, beschwerte sich dieser daraufhin beleidigt. »Wir haben große Qualen erlitten. Warum behandelt Ihr uns wie Verbrecher?«
»Schafft sie nach unten!«, befahl Francois. »Mit der Befragung fangen wir später an.«
Francois wandte sich ab und blickte besorgt zu den kleinen Inseln hinüber. Wo war Lucretia? Wo der Arzt? Wo Deschamps? Was war aus den anderen Schiffbrüchigen geworden?
Auf dem Friedhof
»Da kommen sie«, verkündete Wouter Loos.
Sie standen am Strand, die Hände am Knauf ihrer Schwerter.
Lange bevor das Schiff vor Anker ging, hatte Mattys Beer zu fragen begonnen, ob schon jemand den Skipper erspähte.
Später sagte jedoch niemand mehr etwas. Alle beobachteten stumm, wie das Schiff auf sie zuhielt, wie es an den Riffen vorbeiglitt und wie nacheinander die Segel eingeholt wurden.
Heimlich hofften sie, dass der Steinmetz sich an Bord befand und seine Sache richtig gemacht hatte.
Die ersten Beiboote wurden zu Wasser gelassen.
»Pelgrom soll die Weinbecher parat halten«, befahl Wouter Loos.
Lucretia überlief ein Schauder. Gleich ist es so weit, dachte sie. Ich werde allerdings auf nichts mehr hoffen, denn die Hoffnung ist wie ein Fluch, der die Menschen zu abscheulichen Taten verführt. Sie hat mich in Jeronimus' Arme getrieben, sie hat uns allen unsere Ehre und Würde geraubt.
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»Gottverdammt«, fluchte Allert Janz, als die Boote näher kamen und sie anstelle der bekannten Gesichter diejenigen fremder Soldaten erblickten - und darunter einen weizenblonden Schöpf.
Mattys Beer zog sein Schwert. »Ich bringe diesen Kerl um, und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tue«, knurrte er.
Wouter Loos schüttelte wie benommen den Kopf, als die Soldaten aus den Booten sprangen und mit angelegten Gewehren vorwärts schritten.
Jan Pelgrom machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete über den Strand hinweg hoch zu den Klippen.
»Ich bin dafür zu kämpfen«, erklärte Mattys Beer, doch er hörte sich unentschlossen und zweifelnd an. Seine Augen richteten sich fragend auf Wouter Loos.
»Mach, was du willst«, erwiderte dieser, indem er seine Waffen abnahm und zum Zeichen der Kapitulation auf den Erdboden warf.
Mattys Beer zauderte für einen Moment, doch dann löste auch er sein Schwert und ließ es fallen.
Allert Janz war der Letzte, der sich von seinen Waffen trennte.
Wenige Augenblicke später hatten die Soldaten sie gepackt, auf die Knie gezwungen und gefesselt.
Ich empfinde weder Freude noch Erleichterung, noch Dankbarkeit, stellte Lucretia fest. Eher ist es so, als befände ich mich als Zuschauerin auf dem Jahrmarkt und wartete darauf, dass das nächste Gaukelstück beginnt.
»Der Teufel hat abgedankt«, murmelte eine Stimme hinter ihr.
»Seine Herrschaft ist beendet.«
Lucretia wandte sic h um. Es war Deschamps.
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»Da irrt Ihr Euch«, widersprach Lucretia. »Wir sind mit dem Teufel durch die Pforten der Hölle geschritten. Von nun an wird er immer bei uns sein.«
»Was werdet Ihr ihnen über mich erzählen?«, fragte Deschamps.
Lucretia schloss die Augen. Wie schnell das geht! dachte sie.
Wie rasch er sich umbiegt, um abermals mit dem Strom zu schwimmen!
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie.
»Denkt daran, dass ich keine Wahl hatte«, bat Deschamps leise. »Ebenso wenig wie Ihr.«
Nun werden die Sünden verglichen und abgewogen, überlegte Lucretia. Ob er wahrhaftig glaubt, ein Kind zu ermorden und Jeronimus zu umarmen seien Verbrechen ein und derselben Natur?
»Jeder muss mit dem, was er getan hat, leben, Deschamps«, erklärte Lucretia. »Ihr ebenso wie ich. Ich werde Euch jedoch nicht bezichtigen, denn ich will Euer Blut nicht an meinen Händen haben.«
Sie kehrte ihm den Rücken zu und begab sich zu ihrem Zelt.
Die Frauen waren am Strand zusammengelaufen und schauten den rettenden Booten entgegen.
Als sie sahen, dass ihre Peiniger sich ergaben, standen sie für eine Weile reglos da, doch dann löste sich ihre Starre in Unruhe auf.
»Mein Mann war auf der Langen Insel«, murmelte eine. »Was werde ich ihm sagen? Wie soll ich ihm begreiflich machen, dass ich nicht umhin konnte, zu tun, was sie verlangten? Wird er jemals bereit sein, mir zu verzeihen?«
Gib dir keine Mühe, dachte Sussie. Er wird dir nie verzeihen.
Stattdessen wird er dich dein Leben lang mit Argwohn verfolgen und verachten.
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Sie sah,
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