Zorn der Meere
»Gib ihr das elende Ding zurück.«
Conrad schüttelte den Kopf. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und in seinen Augen glomm ein eigentümliches Licht.
»Gebt dem Kind sein Spielzeug zurück!«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen.
Conrad fuhr herum. Er erkannte einen Soldaten mit weizenblondem Haar.
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»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte er abfällig. »Hast du Lust auf eine Tracht Prügel?«
»Ich habe Lust, dem Kommandeur zu erzählen, dass Ihr gern kleine Kinder quält.«
»Das wird ihn im Moment ganz besonders interessieren.«
Conrad lachte spöttisch.
In diesem Augenblick setzte Hilletje abermals zu einem Sprung an und schaffte es, ihr Spielzeug zu berühren.
»Du widerliche kleine Göre«, zischte van Huyssen. Dann holte er aus und schleuderte den Kreisel ins Meer.
Judith beobachtete, wie das bunte Holzstückchen auf den Wellen auftraf und noch für eine Weile hin und her schaukelte, ehe es nicht mehr zu sehen war. Hinter sich hörte sie Hilletje fassungslos weinen.
Conrad schlenderte mit zufriedener Miene zu seinen Kameraden zurück.
Wiebe Hayes drehte sich um und verschwand.
Frau Hardens hatte Hilletje in die Arme geschlossen und versuchte, ihr Kind zu trösten.
Die anderen Frauen sahen sich betreten an.
»Warum hat der Unterkaufmann nicht eingegriffen?«, hörte Judith Sussie fragen. »Er hat doch alles mitangesehen. Warum hat er zum Schluss gelacht?«
Lucretia bemerkte, dass Francois aufgehört hatte, sich von einer Seite auf die andere zu werfen. Stattdessen lag er ganz still da und starrte sie an, als hätte er eine Vision.
»Was habt Ihr denn?«, murmelte sie. »Wo schaut Ihr hin?«
»Da ist der Teufel«, flüsterte er.
»Schsch«, machte Lucretia und tupfte die Schweißperlen ab, die Francois über die Schläfen rannen.
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»Ihr habt den Teufel an Bord gebracht«, stieß er plötzlich hervor.
»Bitte, beruhigt Euch«, bat Lucretia. »Hier ist weit und breit kein Teufel in Sicht.«
»Ich habe... gesündigt«, stöhnte Francois. »Der Teufel ergötzt sich an meiner Schuld.«
Er verstummte. Nach einer Weile murmelte er verwundert:
»Ich glaube, es ist nur die Liebe, die mich quält.«
Francois seufzte. Mit einem Mal sah er Lucretia ganz klar an.
»Ich bete dich an«, flüsterte er.
Als Lucretia später ihre Kabine betrat, fand sie Zwaantie an ihrem kleinen Schreibpult vor, wo das Mädchen in ihrem Tagebuch blätterte.
»Seit wann kannst du lesen?«, fragte Lucretia und lehnte sich müde an den Türrahmen.
»Ich habe auf Euch gewartet und mir dabei ein wenig die Zeit vertrieben«, entgegnete Zwantie unbeteiligt. »Aber ich lese nur sehr schlecht.«
»Das Tagebuch eines Menschen ist etwas äußerst Privates.
Wusstest du das nicht?«
Zwaantie schob das Buch beiseite.
»Möchtest du, dass ich mich abermals an den Unterkaufmann wende?«
Die Drohung schien Zwaantie zu belustigen.
»Was gibt es da zu lachen?«
»Interessiert er sich neuerdings für Eure Meinung?«
Lucretia holte tief Luft. »Vielleicht interessiert sich der Marschall dafür.«
»Den schert sie ebenso wenig.«
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Seit wann ist sie sich ihrer Sache so sicher? überlegte Lucretia. Offenbar weiß sie etwas, von dem ich keine Ahnung habe.
»Wie geht es dem Kommandeur?«, fragte Zwaantie.
Lucretia rieb sich die Schläfen. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie.
»Wart Ihr zu sehr mit ihm beschäftigt, um ihn danach zu fragen?«
Dieses Mal holte Lucretia aus und schlug zu.
Für einen Moment sah es aus, als würde Zwaantie sich auf sie stürzen, doch dann besann sie sich, legte ihre Hand auf ihre gerötete Wange und sagte lediglich: »Das wird Euch noch Leid tun, das verspreche ich Euch.«
»Verschwinde, Zwaantie!«, befahl Lucretia. »Und zwar auf der Stelle!«
»Ich bin schon weg«, versetzte das Mädchen. »Und glaubt bloß nicht, ich käme jemals zu Euch zurück.«
Mit diesen Worten stieß es Lucretia zur Seite, riss die Tür auf und rannte über den Gang davon.
Lucretia ließ sich auf ihr Lager sinken. Was geht auf diesem Schiff vor? fragte sie sich. Sind wirklich alle verrückt geworden? Oder war es so, wie Francois in seinem Wahn angenommen hatte? War tatsächlich der Teufel an Bord?
Sechsundvierzig Grad und zehn Minuten südlicher Breite zehnter Tag des Mai im Jahre des Herrn, 1629
Jedermann wartete auf Nachricht über das Befinden des Kommandeurs.
Die Frauen, die unter den Sonnensegeln nähten und stickten, waren stiller geworden und lachten nur noch selten.
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