Zorn der Meere
Ständig
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wurden neue Gerüchte laut, die entweder besagten, Pelsaert ginge es besser, Pelsaert ginge es schlechter oder Pelsaert sei tot.
Judith saß im Kreise der anderen und starrte vor sich hin. Seit dem Zwischenfall mit Hilletje wich sie van Huyssens Blicken aus. Mit halbem Ohr hörte sie die gebrüllten Befehle des Kapitäns, die vom Achterdeck zu ihnen herunter schallten.
Plötzlich merkte sie, dass die Frauen ihre Arbeiten hatten sinken lassen. Judith blickte auf.
»Was, zum Teuf-«, zischte Anneken Hardens, indem sie mit dem Kopf nach oben deutete. »Das ist doch Zwaantie Hendricks, oder nicht?«
Judiths Blick folgte ihrer Kopfbewegung. Da oben blitzen Röcke auf, wehten helle Haare im Wind.
Judiths Mutter wich die Farbe aus dem Gesic ht. »Sie macht sich der Todsünde schuldig«, murmelte sie.
»Er hat den Arm um sie gelegt«, teilte Frau Hardens allen mit.
»Wie man hört, schläft sie auch bei ihm.«
»Und Madame van der Mylen? Sagt sie nichts dazu?«, wollte eine der Frauen wissen.
»Der Pfarrer muss mit Madame van der Mylen reden!«, rief eine andere.
Frau Bastians richtete sich auf. »Das hat er bereits getan«, erklärte sie wichtigtuerisch. »Und er hat auch kein Blatt vor den Mund genommen. Das sei nun eine Sache zwischen dem Marschall und dem Kapitän, hat sie ihm indes verkündet. Als ob hier einer wagte, sich mit Jacobs anzulegen!«
Die Frauen stießen Laute der Entrüstung aus.
»Das geht nicht gut aus«, sagte eine.
Entlang des Orlopdecks waren auf einer Seite mehrere kleine Räume abgetrennt worden. In einem davon hatte sich eine Gruppe von Männern zu einer Runde Genever eingefunden.
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Jeronimus war dabei, Conrad van Huyssen, der Bootsmann Jan Everts, Abraham Dericks, der Marschall, David Zeevanck, der Schreiber, und der Obergefreite mit dem abstoßenden Gesicht, der, den man allgemein Steinmetz nannte.
Während die anderen am Tisch hockten und die Flasche kreisen ließen, hielt Jan Everts Wache und beobachtete durch ein Astloch in der Tür, ob sich von draußen jemand näherte.
Für eine Weile sagte niemand etwas, allenfalls schnalzte der eine oder andere genießerisch mit der Zunge.
»Ich glaube, er macht es nicht mehr lange«, erklärte Jeronimus plötzlich.
»Doch sicher seid Ihr Euch nicht«, stichelte van Huyssen.
»Ich wiederhole nur, was der Bordarzt gesagt hat«, entgegnete Jeronimus. »Noch ein Tag, höchstens zwei. Als ich eben in seiner Kajüte war, wirkte er bereits wie tot.«
Wenig später hub Jeronimus abermals an: »Kennt eigentlich jemand den Wert der Fracht, die wir transportieren?«
Alle blickten ihn an. Jeronimus lächelte. Nun besaß er ihre volle Aufmerksamkeit.
»Sie entspricht dem Vermögen eines Fürsten«, fuhr Jeronimus fort. »In den Kisten lagern Silbermünzen im Wert von einer Viertelmillion Gulden. Dazu kommt noch die Truhe des Kommandeurs in dessen Kajüte. Er versteckt dort Juwelen, die für Shah Jahan vorgesehen sind. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, erkundigte sich Zeevanck.
»Auf nichts Bestimmtes, David«, erwiderte Jeronimus sanft.
»Die Entscheidung liegt bei Euch. Ich weiß lediglich, dass ich so viel Reichtum kein zweites Mal begegnen werde. Ihr übrigens auch nicht, Conrad, trotz Eurer vornehmen Abstammung.«
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Jeronimus richtete seinen Blick auf den Steinmetz. »Was zahlt man Euch denn im Monat, dass Ihr Euer Leben riskiert? Wollt Ihr irgendwo in einem giftigen Sumpf mit einem Dolch in den Rippen enden?«
Jeronimus warf einen raschen Blick in die Runde. Es war offenkundig: Sie hatten Blut geleckt.
»Die Wichtigsten von uns sind hier versammelt«, begann er noch einmal. »Wir sollten diesen Anlass nutzen, um nachzudenken. Wenn Pelsaert stirbt, werde ich Kommandeur.
Dann möchte ich erfahren, was euch lieber ist: weiter nach Batavia zu segeln oder ein Leben zu beginnen, das ihr bislang nur aus euren Träumen kennt.«
»Was ist mit dem Kapitän?«, fragte Jan Everts.
»Den überlasst ruhig mir«, entgegnete Jeronimus. »Der steht auf unserer Seite.«
Die Männer warfen sich heimlich Blicke zu. Jeder fragte sich, wie weit er dem anderen trauen konnte und was ihm geschähe, wenn der Plan misslang. Bei Meuterei gab es nämlich keine Gnade - auf Meuterei stand der Tod. Andererseits leuchtete ihnen ein, was der Unterkaufmann hervorgehoben hatte: Eine Gelegenheit wie diese böte sich nie wieder.
»Ihr habt doch einen Plan! Also heraus mit der Sprache«
forderte
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