Zorn: Thriller (German Edition)
die vier Elemente entdeckten, als wir den Sinn der Radiowellen erfassten, als das Auto erfunden wurde, als der Mensch zum ersten Mal geflogen ist, oder – in unserer Zeit – als die Idee des Internets geboren wurde. Aber die Entdeckung, die wir gerade machen, ist wohl noch existenzieller. Wir sind nämlich dabei, das eigentliche Geheimnis des Lebens aufzudecken. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber die Technologie ist noch nicht so weit. Das, was wir ernsthaft zu begreifen beginnen, ist die Tatsache, wie wenig wir dennoch verstehen. Und wenn wir unsere zukünftigen Kinder bereits jetzt testen lassen, wo sich die Technologie noch in einem steinzeitlichen Stadium befindet, dann haben wir einem Phänomen die Tür geöffnet, das sich für immer und per Definition als Irrglaube erweisen wird: der Idee von der Erschaffung des perfekten Menschen. Diesen Menschen gibt es nicht, hat es nie gegeben, wird es nie geben. Unsere Existenz baut auf Variationen auf, darauf, dass wir unterschiedlich sind, dass jedes Individuum einzigartig ist und auch als einzigartig angesehen wird. Zu dieser Einsicht sind wir nach Tausenden von Jahren mühsamen menschlichen Strebens gelangt.«
Felipe Navarros Füße trotteten nicht etwa langsam zurück zu seinem Körper. Sie rannten. Und fügten sich wieder ein. Navarro lächelte schwach und fragte: »Und das war es also, was die beiden vorhatten? Den perfekten Menschen zu erschaffen?«
»Nicht nur das«, entgegnete Blandford. »Die perfekte Leitfigur.«
»Aber die Lippen des Professors sind versiegelt?«
»Vollkommen«, antwortete Blandford und versiegelte seine Lippen.
NATO
Den Haag – Brüssel, 29. Mai
Es hatte gerade Mitternacht geschlagen, als am Samstag das Telefon in Paul Hjelms kleiner Wohnung in Den Haag klingelte. Er wohnte inzwischen bereits seit anderthalb Jahren dort, fühlte sich aber noch nicht heimisch. Auch wenn seine Lebenspartnerin Kerstin Holm in den ersten Wochen bei ihm gewesen war und mitgeholfen hatte, die stilvolle Altbauwohnung im Statenkwartier einzurichten, wurde er das Gefühl nicht los, in einer bescheidenen Junggesellenbude zu hausen. Wie hell, neu renoviert und standesgemäß die Wohnung auch war, erinnerte sie ihn doch immer an seine Einzimmerwohnung in der Slipgatan auf Messerstecher-Söder in Stockholm, in die er nach seiner Scheidung vor vielen Jahren gezogen war. Offenbar war es ihm nicht möglich, dieses latente Gefühl der Einsamkeit abzustreifen.
Wie immer hatte er nicht vor Mitternacht einschlafen können. Er saß mit seinem Laptop auf dem Schoß im Bett und ging den Fall noch einmal durch. Die Daten zu Viktor Larssons Opfern strömten nur so herein, aber an der anderen, der neuen Front tat sich nicht gerade viel. Das war auffällig. Kowalewski hatte bei seiner Untersuchung von Roman Vaceks »offener Ehe« keine relevanten Ergebnisse erzielt, Sifakis’ Reise nach Prag ergab auch nichts Neues, Beyer und Bouhaddi liefen in Straßburg herum, ohne von den Parlamentskollegen Vaceks irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren, und obwohl Hershey und Balodis höchstwahrscheinlich Unterstützung von Hersheys Kontaktpersonen im MI5 erhielten, tauchte Vaceks Name in keinem auch nur annähernd suspekten Zusammenhang auf. Auch dass Hjelm den Fall Massicotte erneut durchgegangen war, hatte zu nichts geführt. Und von Navarros überstürzter Reise nach Baltimore erhoffte Hjelm sich im Grunde auch nicht viel.
Deswegen war er in der Tat überrascht, Felipe Navarros Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, als er sich meldete.
»NATO«, sagte Navarro lediglich.
»Ich höre«, entgegnete Hjelm knapp.
»Roman Vacek war Mitglied eines Grundlagenforschungsteams an der Johns Hopkins University unter Leitung von Professor Blair Blandford. Es bestand hauptsächlich aus Genforschern, aber im Team arbeiteten auch Hirnforscher und Neurologen. Zwei Mitglieder des Teams ließen sich ziemlich häufig zur gleichen Zeit freistellen. Der eine war Roman Vacek. Der andere war ein Neurologe namens Andrew Hamilton III. Laut Blandford war die NATO in gewisser Weise bei dem Versuch involviert, ›die perfekte Leitfigur‹ zu erschaffen.«
Inzwischen hatte Paul Hjelm sich kerzengerade im Bett aufgesetzt. »Wovon reden wir hier genau?«, fragte er. »Von einem von der NATO gesteuerten Spezialteam?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Navarro. »Weitere Informationen hatte Blandford nicht. Die Forschungsarbeit seiner Gruppe schien durch Vaceks und Hamiltons ständige Abwesenheit
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