Zorn: Thriller (German Edition)
letztendlich. Aber ich habe bereits zu viel gesagt.«
»Andrew?«, fragte Felipe Navarro.
»Neurologe, Roman Vaceks Zwilling im Geiste, Professor Andrew Hamilton III. Sie haben sich immer gleichzeitig freistellen lassen.«
»Arbeitet Andrew Hamilton III. noch in der Johns Hopkins?«
Professor Blandford schüttelte den Kopf und schaute auf. Der Blick aus seinen hellen Augen war noch wässriger als zuvor.
»Er ist tot«, antwortete er.
»Tot?«, fragte Navarro.
»Er starb vor vier Jahren«, erklärte Blandford. »Er wurde ermordet.«
»Ermordet?«, wiederholte Navarro.
»Unangenehme Geschichte«, meinte Blandford.
In Felipe Navarros Oberschenkeln bereitete sich ein eigentümliches Gefühl aus. Eine Art Kribbeln. Das langsam abwärtswanderte.
»Und was haben Roman Vacek und Andrew Hamilton III. während ihrer Freistellung gemacht?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Blandford. »Ich habe es nie erfahren.«
Navarro konnte nicht umhin nachzufragen. Das Kribbeln in seinen Beinen veranlasste ihn dazu: »Aber wir reden hier doch wohl nicht vom CIA? Vom FBI? Dem Secret Service?«
Professor emeritus Blair Blandford schnaubte kurz und lächelte erneut freudlos. »Wohl kaum, nicht wahr?«, entgegnete er mit milder Ironie.
»Wovon reden wir dann?«
»Von nichts«, antwortete Blandford. »Meine Lippen sind versiegelt.«
»Ich weiß«, bestätigte Navarro. »Und sobald ich gegangen bin, sind sie erneut versiegelt. Und meines Wissens nach auch nie geöffnet worden. Aber jetzt müssen Sie sprechen.«
Blandfords Miene, mit der er sich über seinen überdimensionalen Schreibtisch vorbeugte, sagte alles.
Alles, was Felipe Navarro wissen wollte.
»Fünfunddreißig Jahre«, erklärte Blandford dennoch. »Inzwischen sind fünfunddreißig Jahre vergangen. Im Mittelalter eine Lebenszeit. Wie auch in vielen afrikanischen Ländern. Und all die Jahre steht man außen vor. Kann nicht teilhaben. Weil man sich geweigert hat, auf seine Freiheit zu verzichten. Auf die Objektivität der Lehre. Auf den Glauben daran, dass die Wissenschaft objektiv zu sein hat. Dass die Fakten für sich sprechen müssen. Dass Wissen keine politische Färbung hat. Zu hundert Prozent unabhängig von Militärallianzen ist.«
»Ich schließe daraus ...«
»NATO«, unterbrach Blandford. »Aber jetzt sind meine Lippen versiegelt.«
»Und auch nie geöffnet gewesen«, bestätigte Felipe Navarro, während er spürte, dass das eigentümliche Kribbeln nun auf seine Schienbeine überging. Als sich seine Füße von seinem Körper zu lösen begannen, sagte er: »Danke.«
Dann liefen die Füße los.
»Ich habe noch eine Frage«, meinte Felipe Navarro.
»Meine Lippen sind versiegelt«, wiederholte Blair Blandford.
»Es geht um etwas völlig anderes«, betonte Navarro. »Was hält der Professor von der DNA-Sequenzierung bei ungeborenen Kindern?«
»Niemals!«, antwortete Blandford mit ungeahnter Intensität. »Sehen Sie mich an. Wer bin ich? Ein alter wohlhabender Mann in Golfkleidung. Man könnte mir alles Mögliche anhängen, oder? Professor in einer Privatklinik, Golf mit der Mafia, ein geheimes Vermögen auf den Kaimaninseln, Sponsor eines einflussreichen republikanischen Senators. Nicht wahr?«
Felipe Navarro hatte keine Antwort parat. Aber seine Füße hatten angehalten. Waren stehen geblieben.
»Seit hundert Jahren«, begann Blandford, »leben wir in einer Welt, in der jeder wissenschaftliche Fortschritt gegen einen ethischen abgewogen werden muss. Unser Leistungsvermögen ist inzwischen enorm, es wächst in Hunderterpotenzen über uns selbst hinaus. Wir müssen viel mehr Schritte in die Zukunft überdenken, als man es früher getan hat. Unser Erbe an die Zukunft besteht aus der Dimension der Folgen – unser heutiges Handeln kann somit entscheidende Auswirkungen nicht nur auf unsere Kinder und Enkelkinder, sondern auf alle Menschen für alle Zeiten haben.«
Navarro betrachtete seine Füße. Sie drehten sich um. Die Fußspitzen zeigten jetzt zu ihm.
Blandford fuhr fort: »Wir leben heute in einer perfekten Zeit, auch wenn es nur wenige einsehen. Natürlich wäre man gerne in dem Augenblick dabei gewesen, als der Mensch zum ersten Mal das Feuer bezwang, als wir plötzlich feststellten, dass sich in unserer Kehle Worte formen ließen, als das Rad erfunden wurde, als die Schriftsprache geschaffen wurde, als wir erkannten, dass sich Samen in der Erde in Pflanzen verwandeln, als wir zu der Einsicht kamen, dass die Erde rund ist, als wir
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