Zorn: Thriller (German Edition)
auf.
Er bemühte sich redlich, in dieser Nacht zu schlafen, aber als der Wecker seines Handys um vier Uhr morgens erschreckend laut klingelte, wusste Paul Hjelm nicht, ob er überhaupt ein Auge zugemacht hatte. Vielleicht schon. Vielleicht waren seine Überlegungen in Träume übergegangen, ohne dass er es gemerkt hatte. Denn seine Gedanken waren äußerst bildreich gewesen. Wie in einem Fotoalbum hatte er die Siebzigerjahre seiner Kindheit durchgeblättert. Das Gleichgewicht des Schreckens. Die Blindheit des Kalten Krieges. Seine eigene Kindheit im verschlafenen Vorort Tumba in Stockholm. Der Segersjövägen. Der See Uttran. Der Fußballplatz. Die sonntägliche absolute Stille. Eine unschuldsvolle Welt, eine unwissende Welt, bewohnt von Bürgern, die keine Ahnung von der permanenten tödlichen Bedrohung hatten, in der sie lebten. Die Welt vor der Erfindung des Internets und der Allgegenwärtigkeit elektronischer Medien. Hjelm konnte es vor sich sehen, wie sich in der damaligen Welt das Militär von den durchgreifenden Fortschritten der Wissenschaft berauschen ließ. Wie man tatsächlich eine große Anzahl internationaler Experten versammelt hatte, um im Labor die perfekte Leitfigur zu erschaffen. Gene, Gehirn, Aussehen. Der Genforscher, der Neurologe und der Arzt für plastische Chirurgie.
Paul Hjelm stand auf, stellte sich kurz unter die Dusche, drehte zum Schluss das eiskalte Wasser auf, damit sein Gehirn in Gang kam, und rührte sich rasch einen Becher Pulverkaffee an. Im Vorbeigehen griff er eine Scheibe Brot, dann nahm er den Aufzug hinunter in die Tiefgarage, die als sogenannte Trumpfkarte des etwas pompösen Gebäudes galt. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr los, in ein anderes Land.
Hundertsiebzig Kilometer Autofahrt am frühen Morgen lagen vor ihm, ehe er das NATO-Hauptquartier in Brüssel erreicht hätte. Also zwei Stunden Zeit, um ungestört nachzudenken, genau das, was Paul Hjelm vor der Begegnung mit dem sogenannten »Sprecher« der NATO benötigte. Er hatte versucht herauszufinden, wer dieser Brent Lloyd eigentlich war. Doch über ihn fanden sich keinerlei Informationen. Und das sagte wiederum einiges.
Während er über die noch recht leere E 19 in Richtung Süden fuhr, begann es langsam zu dämmern an diesem düsteren europäischen Morgen. Als er hinter Rotterdam auf die A 16 abbog, war er aufs Neue erstaunt, wie platt die Landschaft in diesem Teil der Welt war. Er selbst hatte als Kind seine Sommer im allerjüngsten Teil Europas verbracht. Als die großen Eismassen vor Jahrtausenden schmolzen, erhoben sich die Gesteinsmassen aus der Ostsee, und Stockholms Schärengarten entstand, die zahlreichsten und jüngsten Inseln Europas. Hjelm konnte sich noch gut daran erinnern, wie er vor nicht allzu langer Zeit auf die Insel seiner Kindheit in die Schären zurückgekehrt war. Die Küste sah inzwischen anders aus. Nicht nur, weil die reichsten Stockholmer sich dort niedergelassen hatten, nachdem es ihnen gelungen war, jegliche Richtlinien gegen Neubauten am Ufer zu umgehen, sondern auch, weil sich die Landschaft an sich verändert hatte. Die Landerhebung, die nach wie vor auffallend stark voranschritt, hatte die Badebucht seiner Kindheit trockengelegt und sie in eine blühende Blumenwiese verwandelt. Das war ein fast albtraumhafter Anblick, als wäre seine Kindheit schlicht und einfach eine Lüge gewesen.
Er verscheuchte den Gedanken, während sein exquisites Elektroauto schon die nördlichen Vororte von Brüssel erreichte.
Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, betrat er den befremdend überdimensionalen Betonbunker, der das Hauptquartier der NATO in Brüssel beherbergte. Um Zugang zu erhalten, musste man nicht nur einen schriftlich registrierten Termin vorweisen können, sondern sich außerdem diversen Identifizierungen und Leibesvisitationen unterziehen.
Als er alles überstanden hatte, zog Hjelm eine Kartenskizze des enormen Gebäudes aus der Tasche, auf der er die Strecke zu seinem Treffen eingezeichnet hatte, und machte sich etwas mutlos auf den Weg durch die samstäglich leeren Korridore.
Nach mehr als zehnminütiger Wanderung glaubte er sich am Ziel. Er stand vor einer nichtssagenden Tür in den oberen Stockwerken des Gebäudes, öffnete sie, betrat einen leeren Konferenzraum und sah auf einer Wanduhr, dass er vier Minuten zu früh gekommen war. Dennoch hatte sein Zeitplan ziemlich gut funktioniert von Den Haag bis hierher.
Es war exakt sieben Uhr, als Admiral Brent Lloyd den
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