Zorn: Thriller (German Edition)
über diesen Pierre Rigaudeau.«
Bouhaddi blickte auf den Zettel, den sie in der Hand hielt, und sagte: »Wie die anderen wurde er ebenfalls in den Vierzigern geboren, allerdings etwas später. Weitaus bunterer Hintergrund, kein Universitätspauker, sondern kriminelle Jugend im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, frühzeitiges Interesse an Chemie, konnte als jugendlicher Krimineller zwischen Gefängnisstrafe und Fremdenlegion wählen. Entschied sich für Letzteres. Erhielt Auszeichnungen für seinen militärischen Einsatz in Afrika, hauptsächlich in Dschibuti, und wie diese Militäreinsätze in den letzten Tagen des Kolonialismus ausgesehen haben, kann man sich ja vorstellen. Arbeitete zu Beginn der Siebzigerjahre beim Arzneimittelunternehmen Rhône-Poulenc und stieg rasch vom Laborassistenten zum Forschungschef auf, übrigens der erste in Frankreich ohne akademische Ausbildung. War international als Chemiegenie anerkannt. Kehrte Rhône-Poulenc schließlich den Rücken und gründete eine eigene Firma. Von da an saß er allein zu Hause in seiner heruntergekommenen Wohnung in Clichy-sous-Bois und entwickelte Arzneimittel, für die er jeweils Patente anmeldete. Pierre Rigaudeau besitzt nach unbestätigten Angaben die meisten persönlichen Patente auf Chemieprodukte in ganz Frankreich. Als freier Unternehmer muss er keine Freistellungen beantragen wie etwa die Universitätsprofessoren Vacek, Dahlberg und Hamilton.«
»Also dieselbe Situation wie bei Udo Massicotte. Weißt du schon, was dieser Pierre Rigaudeau zu den Zeiten gemacht hat, als die anderen jeweils freigestellt waren?«
»Noch nicht«, antwortete Bouhaddi. »Aber wenn man einmal vom Allerwichtigsten absieht, wissen wir außerdem, dass Pierre Rigaudeau Witwer ist und zwei Söhne hat, von denen einer als Lehrer arbeitet, während der andere verschwunden ist, und dass ...«
»Er ist also Chemiker?«, unterbrach Paul Hjelm sie unnötig heftig.
»Ja?«, bestätigte Bouhaddi irritiert.
»Und hat die meisten Patente auf Chemieprodukte in ganz Frankreich?«
»Zumindest die meisten persönlichen Patente«, antwortete Bouhaddi und deutete vage auf ihren Zettel.
»Hast du eine Liste der Patente dabei?«
»Ja. Mit über zweihundert Substanzen.«
»Gibt es darunter eine ...«, Paul Hjelm wühlte in seinen Unterlagen, »... die Protobiamid heißt?«
Corine Bouhaddi sah ihren Chef mit einer hochgezogenen Augenbraue an und ging dann ihre Zettel durch. Schließlich hellte sich ihre Miene auf.
»Ja, in der Tat«, antwortete sie. »Protobiamid. Patent 1993. Ein sogenannter Proteindetektor. Reagiert stark im Zusammenhang mit Proteinen, also mit Eiweißstoffen. Wurde bis 1994 verwendet, um mikroskopische Spuren von Proteinen in Flüssigkeiten nachzuweisen, in denen auf keinen Fall Proteine vorkommen durften. Wurde danach von moderneren Präparaten abgelöst.«
»Da haben wir’s«, rief Hjelm aus und beugte sich vor. »Giftig?«
»Ja«, antwortete Bouhaddi. »Führt zu einem langsamen Tod. Verursacht davor starke paranoide Wahnvorstellungen.«
»Das ist also die Grundlage für das Gift in der Pferdespritze«, sagte Hjelm. »Das ›Multigift‹ ist eine Weiterentwicklung von Protobiamid, auf das Pierre Rigaudeau ein Patent hat.«
»Oh, verdammt«, rief Bouhaddi aus. »Aber wie passt das Ganze zusammen? Wenn das stimmt, war Pierre Rigaudeau also Mitglied der NATO-Sektion. Aber warum sollte der Mörder Rigaudeaus Gift benutzen?«
»Ich weiß auch nicht, wie das alles zusammenhängt«, antwortete Hjelm. »Aber entschuldige, ich habe dich eben unterbrochen, Corine.«
»Hast du? Ja, doch, ich habe gesagt, dass Rigaudeau Witwer ist und zwei Söhne hat, von denen einer Lehrer und der andere verschwunden ist, und dass er in Paris wohnt.«
»Aber du hast den Satz mit den Worten begonnen: ›Wenn man einmal vom Allerwichtigsten absieht ...‹ Was ist denn das Wichtigste?«
»Dass Pierre Rigaudeau noch lebt«, antwortete Corine Bouhaddi.
Von Amsterdam nach Paris zu fliegen war nahezu ein Klacks. Dennoch konnten Paul Hjelm und Corine Bouhaddi in dieser Stunde eine ganze Menge erledigen.
Pierre Rigaudeau wohnte bis zum Oktober 2005, als die berüchtigten Rassenunruhen stattfanden, nach wie vor in dem Problemvorort Clichy-sous-Bois. Danach zog er an eine unbekannte Adresse. Sein Sohn, der Betrüger und Fälscher Jacques Rigaudeau, verschwand im Chaos der Krawalle und tauchte danach nie mehr auf. Pierre setzte jedoch seine chemische Erfindertätigkeit fort und meldete in
Weitere Kostenlose Bücher