Zorn: Thriller (German Edition)
der darauffolgenden Zeit einige weitere Patente an. Beim französischen Patentamt war es Hjelm und Bouhaddi schließlich gelungen, Pierre Rigaudeaus letzte bekannte Adresse zu erfahren. Er hatte erst vor drei Wochen ein Patent genehmigt bekommen und in diesem Zusammenhang zum ersten Mal nach vielen Jahren eine Adresse angegeben, irgendwo im quirligen Quartier Latin. Es war merkwürdigerweise eine Studentenwohnung. Dorthin fuhren sie.
Sie nahmen ein Taxi. Paris war an diesem Frühsommertag im Mai geradezu betörend schön. Die Luft hatte etwas Zartes, unendlich Leichtes. Und das Licht wirkte nahezu himmlisch.
Aber sie hatten keine Zeit, es zu genießen.
Das Taxi fuhr zügig ins Quartier Latin hinein, wo es unverhofft seine Fahrt verlangsamen musste. Die restliche Strecke im zäh fließenden Verkehr legten sie nur noch stockend zurück. Von der Seine und der Rue de la Huchette bogen sie in kleine Gassen ab, nahmen scharfe Kurven und fuhren auf Kopfsteinpflaster weiter, das mit Spaziergängern und jeder Menge Touristen bevölkert war. Dann hielten sie abrupt an.
Unten im Eingangsbereich standen auf einer Übersichtstafel die schwer zu entziffernden Namen der im Gebäude wohnenden Studenten. Unter der Zimmernummer, die Pierre Rigaudeau bei der Anmeldung seines letzten Patents angegeben hatte, stand der Name Amélie Dumont. Vierter Stock, kein Aufzug.
Sie machten sich auf den Weg. Im Treppenhaus begegneten ihnen Studenten mit stapelweise Büchern unterm Arm. Doch keinen von ihnen kümmerten die beiden Polizisten auch nur im Mindesten.
Als sie in den angegebenen Korridor einbogen, lag der dagegen vollkommen verlassen da. Herumwirbelnde Staubkörner tanzten in den Strahlen des magischen Lichts, die vereinzelt durch die schmutzigen Fenster fielen.
Jetzt hatten Hjelm und Bouhaddi die Tür erreicht, auf deren Schildchen »Amélie Dumont« stand. Sie sahen sich um, öffneten ihre Jacken, um rasch nach ihren Waffen greifen zu können, und klopften an.
Keine Reaktion. Nicht eine einzige Bewegung, kein Laut war zu hören.
Erneutes Klopfen, diesmal stärker. Wieder nichts. Bouhaddi holte einen dicken Schlüsselbund aus ihrer Tasche und hatte die Tür in weniger als einer Minute geöffnet. Sie zogen ihre Waffen und glitten in das Apartment.
Die Wohnung war unerwartet groß, aber das war nicht das Erste, was ihnen auffiel. Auch den chemischen Geruch, der alle anderen möglichen Gerüche überdeckte, registrierten sie nicht sofort. Nicht einmal die chemische Ausrüstung, die von allerlei Substanzen in Glaskolben und Reagenzgläsern bis hin zu chemischen Anordnungen und laufenden Experimenten reichte, zog ihre Aufmerksamkeit ernsthaft auf sich. Was ihnen stattdessen sofort ins Auge fiel, war der Gefrierschrank weit hinten im Flur. Sie passierten einen Raum nach dem anderen – offenbar hatte Pierre Rigaudeau alle Studentenzimmer im gesamten Korridor mittels Strohmännern gemietet und dann die Wände herausgeschlagen –, und mit jedem Zimmer kamen sie dem großen Gefrierschrank mit der Glastür näher. Das Gerät war von innen beleuchtet, und als sie nahe genug waren, sahen sie, was er beleuchtete.
Einen Menschen.
Nachdem sie die nähere Umgebung überprüft hatten, stellten sich vor den Gefrierschrank und verharrten dort bestimmt eine Minute lang mit einem merkwürdigen Gefühl von Andacht.
Pierre Rigaudeau stand aufrecht hinter der Glastür des Gefrierschranks. Er war vollständig bekleidet, inklusive eines weißen Laborkittels, und seine Haut war blauweiß und tiefgefroren. Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf wie der eines Gekreuzigten nach unten geneigt. Von schräg unten beleuchtete eine Lampe sein auffallend friedfertiges Gesicht.
Das Einzige, was das Bild störte, war der Gegenstand, der in seinem Mund steckte.
Hjelm brach den Bann und warf einen Blick auf Bouhaddi. Nach ein paar Sekunden erwiderte sie seinen Blick und verzog leicht das Gesicht.
Dann streiften sie sich Latexhandschuhe über und öffneten die Glastür. Eine eisige Kälte strömte ihnen entgegen, als sie die vollkommen steif gefrorene Leiche auffingen, die vornüberkippte. Mit gewisser Mühe gelang es ihnen, den Toten auf dem Boden abzulegen.
Paul Hjelm betastete vorsichtig den Gegenstand, der aus Pierre Rigaudeaus Mund ragte. Es war ein fest zusammengeknüllter Papierball. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die gefrorenen Kieferknochen auseinanderzubiegen, um den Ball herauszuholen. Hjelm betrachtete ihn. Die Papierbögen waren mit
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