Zorn: Thriller (German Edition)
Computerschrift bedruckt.
»Schau mal hier«, rief Bouhaddi mit heiserer Stimme aus.
Hjelm folgte mit dem Blick der Bewegung ihres Zeigefingers entlang des weißen Laborkittels, bis hin zu der linken Schulter des Toten. Dort ragte eine große Pferdespritze heraus, deren Spitze tief in der Schulter steckte.
Hjelm nickte angestrengt und begann vorsichtig, den Papierball auseinanderzufalten. Das Papier war fest zusammengepresst worden. Es durfte auf keinen Fall zerbröseln. Schließlich gelang es ihnen, die Papierbögen zu glätten. Sie waren zu vier dünnen Stößen zusammengeheftet.
»Berichte«, erklärte Paul Hjelm. »Vier Berichte.«
»Worüber?«, fragte Corine Bouhaddi und richtete sich auf.
»Ich weiß nicht«, antwortete Hjelm und blätterte vorsichtig. »Offenbar über eine Familie, eine Diplomatenfamilie namens Berner-Marenzi. Und über eine Person, die ›W‹ genannt wird.«
»W wie Winfried?«, fragte Bouhaddi. »Winfried Baumbach aus Wolfsburg?«
»Es sieht ganz danach aus«, antwortete Hjelm.
»Lies es laut«, forderte Bouhaddi ihn auf.
Vierter Bericht
Bezeichnung:
Bericht CJH-28509-B452
Auftragsnummer:
A-100318
Ziel:
Aktualisierung, Einholen von Einschätzungen
Datum im laufenden Jahr:
24. Mai
Level:
The Utmost Degree of Secrecy
Den Auftragnehmer erst in einer so späten Phase der laufenden Ermittlungen über entscheidende Sachverhalte aufzuklären muss als kontraproduktiv bezeichnet werden. Da uns der Auftraggeber nun darüber informiert hat, dass die Sektion jahrelang eine Person zur Überwachung von W abgestellt hatte, erscheint die gesamte Ermittlungsarbeit in einem völlig neuen Licht. Nicht zuletzt, wenn man bedenkt, um wen es sich dabei handelte.
Aus Sicht der Sektion war es eine folgerichtige Wahl. Mit seinen Erfahrungen bei der Fremdenlegion war Pierre Rigaudeau geradezu ideal geeignet für die Aufgabe. Was man allerdings nicht bedacht hatte, war die Verbindung zwischen W und Rigaudeau, nicht zuletzt über seinen Sohn Jacques, der auch unter dem Namen »Le Chameau«, »das Kamel«, bekannt war. W war auf Anordnung der Sektion bereits seit seiner Ankunft in Paris im Alter von zehn Jahren regelmäßig Gast in der Familie Rigaudeau. Auf diese Weise konnte man ihn gut im Auge behalten.
Doch diesen Sachverhalt brauchen wir eigentlich nicht näher auszuführen, denn als ehemaligem Chef der Sektion sind dem Auftraggeber die oben genannten Einzelheiten selbstverständlich bekannt. Dennoch erklären sie einiges, was es uns eventuell ermöglich, W in absehbarer Zeit zu finden.
W kommt 1990 als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Paris. Pierre Rigaudeau arrangiert ein »zufälliges« Treffen mit W und lädt ihn zu sich nach Hause ein – auf diese Weise kann er seinen Auftrag, W zu überwachen, bequem ausführen. Sein Sohn Jacques, den er mittels chemischer Behandlungen von einer buckelartigen Missbildung des Rückens befreien konnte, freundet sich darüber hinaus mit W an. Während dieser Zeit arbeitet Pierre Rigaudeau unter anderem an dem Präparat Protobiamid, für das er dann 1993 ein Patent erhält. Zu diesem Zeitpunkt ist der Auftrag der Sektion bereits seit einem Jahr beendet, und Pierre ist auch von der Überwachung Ws entbunden. Die Umwandlung der Sektion hat allerdings noch nicht stattgefunden – das geschieht erst einige Jahre später.
W ist von Pierres Arbeit fasziniert, und Pierre weckt bei ihm ein ernsthaftes Interesse an der Chemie. Im Alter von zwölf Jahren stiehlt W ein Röhrchen Protobiamid für seinen ausgeklügelten Racheplan gegen die Haushälterin Anaïs Criton und schließlich auch für den Mord an seiner Mutter Maria Berner-Marenzi.
Dann wird es etwas komplizierter. Im Augenblick ist noch unklar, ob der Sohn, Jacques Rigaudeau, W ohne Wissen seines Vaters zu einer neuen Identität verhalf oder ob Pierre ebenfalls an Ws Versuch beteiligt war, die Überwachung durch die ehemalige Sektion abzuschütteln, um frei zu sein. W ist zu diesem Zeitpunkt bereits von Udo Massicotte aufgesucht worden, der ihn mit der Wahrheit über seine Herkunft konfrontiert, um die wesentlichen Forschungsergebnisse für die umgewandelte Sektion zu sichern. Mithilfe eines oder der beiden Rigaudeau verwandelt sich W in »Rimbaud«, das heißt in Waltier Petit, der unter einer weiteren falschen Identität schließlich ein erfolgreiches Onlinespiel-Unternehmen in Monaco gründet. Alles Weitere ist bekannt.
Es ist absolut denkbar, dass W in seiner Zeit in den USA weiterhin Kontakt zu Pierre
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